Cobra
Wohnkomplex, der mit der Rückseite an die Mauer grenzte, herrschte eine gewisse Geschäftigkeit. Ansonsten: nichts. Sie programmierte ihre optischen Verstärker auf die Teleskopeinstellung und konzentrierte sich auf die Mauer.
Sie war zu hoch, um hinaufzuspringen – das wurde schnell deutlich. Anderthalbmal so hoch wie der zweistöckige Wohnkomplex neben ihr, überstieg sie die Fähigkeiten ihrer Beinservos um mindestens einen Meter. Man hatte ihr eine Vielzahl von Klettertechniken beigebracht, doch sie alle setzten irgendeinen Halt für Hände oder Füße in der zu erklimmenden Fläche voraus, und eine kurze Überprüfung der Mauer war diesbezüglich nicht gerade vielversprechend.
Damit blieben übrig: Leitern, Wurfhaken oder das gepanzerte Tor. Für die beiden ersten Möglichkeiten benötigte sie Gerät, das sie nicht hatte. Die dritte dagegen …
Für sie war es die naheliegende Möglichkeit, ins Innere zu gelangen, und eine ganze Weile zog sie sie ernsthaft in Erwägung. Radig Nardin hatte von einem Materialtransport gesprochen, und wenn das Tor ohnehin geöffnet werden sollte, brauchte
sie nichts weiter zu tun, als sich zu verkleiden und hindurchzuspazieren.
Nur befand sich ihr Verkleidungsset zwanzig Kilometer südlich von Azras in Daulos Wagen. Und außerdem, wenn sie richtig argwöhnte, hatte Obolo Nardin das Geheimnis wohl kaum mehr als einer Handvoll seiner engsten Familienmitglieder anvertraut. Ein Fremder – jeder Fremde – würde sofort aufgehalten werden.
Eine Bewegung rechts von ihr erregte ihre Aufmerksamkeit: Daulo und sein Begleiter, die in gezwungener Lässigkeit in Richtung des Tores schlenderten, durch das sie und Radig Mangus am selben Morgen betreten hatten. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie vielleicht vornewegschleichen und ihnen helfen sollte, den Weg frei zu machen.
Aber falls man ihre Flucht entdeckte, konnten sich die Beweise, die Jin brauchte, buchstäblich in Rauch auflösen. Und außerdem hatte Daulo jetzt einen neuen Beschützer. Sie konnte nur hoffen, dass die Shahni fähige Leute als Agenten ausbildeten.
Sie atmete tief durch, dann rannte sie in geduckter Haltung quer über das Gelände zur Mauer.
77
Im Innenhof des Wohnkomplexes herrschte eine rege, aber ruhige Betriebsamkeit – neben den Stimmen von Männern hörte Jin auch die von Frauen und Kindern heraus. Das müssen die fest angestellten Arbeiter sein, entschied Jin, während sie vorsichtig das Dach entlangkroch. Mitglieder der Familie Obolo Nardins, wenn das Schema aus Milika hier ebenfalls gültig war: die Vertrauenswürdigen, auf die Verlass war, wenn es darum ging, verdächtige Geräusche zu überhören, die hinter jener Mauer hervordrangen, die sich über ihren Köpfen erhob.
Aber seltsame Geräusche direkt über ihren Köpfen würden sie vermutlich doch bemerken. Niemand schien etwas von Jins Sprung aufs Dach mitbekommen zu haben, jetzt hingegen, wo sie sich vor dem Spanndach oben abzeichnete, brauchte jemand im Innenhof nur den Kopf zu heben … Sie biss die Zähne aufeinander, ging ein wenig tiefer in die Hocke und konzentrierte sich darauf, nicht den Halt zu verlieren.
Und ohne Zwischenfall erreichte sie das andere Ende des Komplexes – um festzustellen, dass sie dadurch nicht so viel gewonnen hatte wie erhofft. Laut ihres Entfernungsmessers befand sich die Oberkante der Mauer nun acht Meter weiter vorn und sechs Meter weiter oben, und aus dem Stand – noch dazu auf unsicherem Boden – dürfte das knapp werden. Sie trat einen Schritt zurück und sprang.
Sie schaffte es so gerade eben, hatte nur knapp ein paar Zentimeter übrig. Ihr Nanocomputer klappte sie mitten in der Luft zusammen, so dass sie den Aufprall mit den Beinen abfangen konnte, als sie krachend gegen die glatte Keramikwand schlug. Sie langte nach vorn, schloss die Finger fest um die Kante, und ein paar Augenblicke lang hing sie reglos da und lauschte auf Anzeichen dafür, ob man sie gesehen hatte. Doch im Innenhof blieb es ruhig. Sie zog sich hoch, bis sie
bäuchlings auf der Mauer lag, und blickte über den Rand nach unten.
Und stellte fest, dass sie Recht gehabt hatte.
Ein kaltes Frösteln kroch ihr den Rücken hinauf. Mangus, dachte sie im Stillen, und die Verbitterung über ihre Dummheit schnürte ihr den Magen zusammen. Mangus, Mungo. Ein völlig naheliegender Name für eine Organisation, die sich als qasamanische Antwort auf die Bedrohung durch die Cobras versteht. Sie und Kruin Sammon hatten beide die Bedeutung des
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