Cocoon, Band 01
Berufungen«, erklärt sie im Weitergehen. »Ich glaube, das war ein Rekord.« Ihr Tonfall klingt stolz.
»Und sie haben euch alle bei den Prüfungen entdeckt?« Ich frage mich, ob die Mädchen in Romen besonders untalentiert sind.
»Na klar. Die meisten von uns sind da drüben.« Pryana deutet auf die Mädchen, die zu Beginn ganz am Ende der Gruppe liefen, jetzt aber die Spitze bilden. Sie haben das gleiche leuchtend schwarze Haar und die gleiche olivbraune Haut wie sie.
»Warst du mit welchen von ihnen befreundet?«
Pryana schüttelt angewidert den Kopf.
»Nein. Die Mädchen in dieser Stadt interessieren sich nur für ihre Kennenlern-Verabredungen. So sind die Städte im Norden. Ich habe gehört, dass die Leute im Osten nach mehr streben.«
Einen Moment lang frage ich mich, was man wohl über uns Leute im Westen sagt, aber ich spreche den Gedanken nicht aus. Ich möchte lieber wissen, warum Pryana froh ist, hier zu sein. »Was ist mit dir?«, erkundige ich mich. »Was ist mit deiner Familie? Hat sie sich über deine Einberufung gefreut?«
»Klar!« Sie schaut mich an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. »Meine Mutter ist Zimmermädchen. Sie hat immer davon geträumt, dass aus mir mal etwas Besseres wird, und meine kleine Schwester kann die Einberufung auch gar nicht erwarten.«
Mein Herz zieht sich bei dem Gedanken zusammen, dass Pryana in ein paar Jahren vielleicht ihre Schwester wieder zu Gesicht bekommt. Nach dem Widerstand meiner Eltern wird die Gilde bestimmt sicherstellen, dass Amie niemals hierher gelangt, auch wenn sie ausgewählt wird. Und ich bin mehr als nur ein bisschen neidisch darauf, mit welcher Leichtigkeit Pryana sich an das neue Leben gewöhnt.
Zu meinem Erstaunen hält man uns auf, als wir den Eingang zu einem weiteren Flügel der Anlage erreichen. Erik flüstert mit einem anderen Wachmann und verschwindet in ein Nebenzimmer. Anstatt uns weiterzuführen, bedeutet der Wachmann uns zu warten. Kurz darauf tauchen noch mehr Wachleute auf. Ich bekomme ein ungutes Gefühl. Wir werden aufgefordert, in den Gang zurückzukehren, und dann führt man uns zu einer langen, gewundenen Treppe. Wir steigen in den Türmen auf wie die unglückseligen Prinzessinnen in den Märchenbüchern, die meine Eltern in Geheimfächern in der Wand versteckt hielten.
Die Treppe führt in einen großen, steinernen Raum, dessen merkwürdig geformte Fenster zu klein sind, um hindurchzukriechen, aber groß genug, um hinauszusehen – die Art von Raum, in dem man ein Mädchen wegsperren würde. Überall stehen große, stählerne Webstühle, ähnlich denen in dem Vlip, nur dass diese hier kalt, glatt und leer sind. Alle sind durch eine Reihe von Röhren und Rädchen miteinander verbunden. Rohre laufen an den Wänden entlang und winden sich um die riesigen Stahlungetüme. In gleichmäßigen Abständen stehen kleine, gepolsterte Hocker im Raum verteilt. Ich frage mich, ob sie die hier arbeitenden Webjungfern weggeschickt haben, damit wir die Webstühle benutzen können.
Die anderen Mädchen gestikulieren und tuscheln mit weit aufgerissenen Augen, und einmal mehr fühle ich mich ausgeschlossen.
Maela, die genauso großartig aussieht wie gestern im Spiegelraum, tritt ein, gefolgt von Erik und einem weiteren Leibwächter. Der andere Wachmann hat kurzes Haar, aber beide Männer sehen fantastisch aus, sehr kantig und eindeutig gefährlich. Maela richtet sich vor uns auf, ihr scharlachrotes Kleid ein schimmernder Blutstropfen vor dem schwarzen Hintergrund ihrer Leibwächter. Ich weiß, dass sie uns einschüchtern will, aber ich straffe mich und schiebe trotzig das Kinn vor.
»Guten Nachmittag«, trällert sie mit ausladender Geste. »Heute beginnt eure Reise ins Webjungferntum, der erste Test steht euch bevor. Ich werde eure natürliche Begabung messen, das Gewebe zu erkennen, sowie eure Kontrolle über eure Fähigkeiten. Der Test wird auch den Städten, die ihr vor euch seht, von großem Nutzen sein.«
Einige Mädchen applaudieren bei dieser Ankündigung, aber ich starre einfach in den Raum.
»Unerwarteterweise haben wir heute etwas ganz Besonderes für euch. Im Normalfall hättet ihr keinen Zugang zu echten Rahmen, bis euer Talent gemessen und bestätigt wurde, aber dieses Jahr haben wir Anlass zu einer vorzeitigen Aufstockung. Ich weiß, wie sehr ihr euch freut, eine solche Gelegenheit zu erhalten!« Ihr Blick huscht zu mir. »Aber wie ihr im Orientierungs-Vlip schon gehört habt, werdet ihr nicht alle Webjungfern
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