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Cocoon, Band 01

Cocoon, Band 01

Titel: Cocoon, Band 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Albin
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komplizierter als die anderen, aber das ist es nicht, was mir Angst macht.
    »Lass mal sehen, was du kannst«, ermutigt mich Maela.
    Ich strecke die Hand aus und betaste die Textur sanft mit den Fingerspitzen. Sie zu berühren ist wie ein Schock. Ich habe schon zuvor Gewebe angefasst, aber noch niemals welches, das Menschen enthielt. Elektrische Spannung durchströmt den Stoff, und mir wird bewusst, dass ich die Energie von Tausenden Leben unter meinen Händen spüre. Trotz der Komplexität finde ich sofort den Schwachpunkt. Er ist so klein, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass man ihn entfernen kann, ohne die umliegenden Fasern zu beschädigen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass so eine kleine Schwachstelle eine echte Gefahr für so einen großen, fest gewobenen Teppich bedeutet.
    »Da ist es«, murmle ich, und höre beeindrucktes Gemurmel von den anderen.
    »Sehr gut«, antwortet Maela. Sie schwingt den Haken wie eine Waffe, und ich sehe die Herausforderung in ihrem Blick. Sie muss wissen, dass das Ausreißen dieser Faser unnötig und vielleicht sogar gefährlich wäre – aber ich soll anscheinend auf Fortgeschrittenenniveau getestet werden.
    »Nicht nötig.« Ich entferne meine Hand von dem Punkt. »Es stellt keine Gefahr für ein so schön gewebtes Stück dar.«
    »Das entscheidest nicht du, Adelice«, zischt sie und hält mir den Haken dichter vor das Gesicht.
    »Das Entfernen würde alle umliegenden Fäden gefährden. Es ist unnötig.« Ich hebe den Kopf und schaue ihr in die Augen. Soll sie doch widersprechen, wenn sie sich traut.
    »Adelice, ich sage es dir nicht noch einmal. Du bringst uns alle in Gefahr, wenn du nicht deinen Teil beiträgst.« Sie spricht, als würde sie mir die Grundrechenarten erklären.
    »Und ich sage dir, dass kein Risiko besteht«, wiederhole ich. Mein Herz schlägt schneller. »Es wäre sogar riskanter, die Faser zu entfernen.«
    »Im Ernst?« Sie tut so, als wäre sie tatsächlich an meiner Meinung interessiert. »Wenn das so ist … «
    Ihre Bewegung ist zu rasch, um sie kommen zu sehen. Sie schwingt den Haken wie ein Rasiermesser, zieht ihn über das Gewebe und reißt einen größeren Abschnitt heraus. Hunderte schimmernder Fäden hängen vom Haken herab, und sie winkt dem kräftigen Wachmann.
    Bring die – und den Rest – in den Aufbewahrungsraum, und sage der diensthabenden Webjungfer, dass wir einen Notflicken brauchen.« Sie gibt ihm den Haken. Niemand spricht ein Wort, wir starren sie bloß an.
    Ich versuche, den Mund zu halten, aber die Wut in meinem Bauch strömt heiß zu meinen Lippen. »Das war unnötig.«
    »Ich habe dir doch gesagt, dass sogar ein einziger schwacher Faden eine Gefahr darstellt.« Maela runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf, als meinte sie es nur gut mit mir. Oder als ob es ihr leidtäte. Ich glaube ihr keins von beiden.
    »Möchtest du die Verantwortung für eine Tragödie tragen?« Die Frage ist an mich gerichtet, doch ihr Blick wandert durch den Raum. Einige Mädchen schütteln den Kopf.
    »Wenn wir unsere Arbeit nicht richtig machen, setzen wir alles Erreichte aufs Spiel«, fährt sie fort und dreht einen kleinen Knopf an der Seite des Webstuhls. Das geschundene, aufgerissene Gewebe vor uns rückt näher heran. Zuerst sieht es wie ein kompliziert verwobenes Stück Stoff aus, das auf der Maschine aufgespannt ist, aber als sie es heranfährt und scharfstellt, wird eine Stadt erkennbar. Es ist, als betrachte man eine Karte mit einem Loch in der Mitte. Dann dreht sie das Rädchen noch ein bisschen weiter, und wir sehen eine Straßenansicht. Eine hübsche Allee mit Bäumen am Straßenrand, so wie die bei mir zu Hause – sie führt zu einer Schule. Man sieht jetzt den Bogen einer Eingangstür und die Ziegelfassade des Eingangs, und dann nichts mehr. Der Rest des Gebäudes fehlt, er ist herausgerissen. Mauersteine lösen sich und fallen in einen Abgrund. Einfach weg.
    Bis zu diesem Moment war mir nicht klar, was sie getan hat. Das zerstörte Gewebe als eine Art Teppich vor mir zu sehen, hat mich nicht so wütend gemacht wie dieser Anblick. Sollte das eine Lektion sein? Und was haben wir gelernt? Dass Maela verrückt ist. Ja klar, da wäre ich auch so drauf gekommen. Braucht man deswegen Säuberungstechnologien, um hinter Leuten wie ihr aufzuräumen? Ist sie es, die wir vergessen sollen?
    Sie hält den Blick ihrer violetten Augen auf mich gerichtet, bis eine Art Lächeln über ihr Gesicht huscht, so kurz, dass niemand außer mir es sehen

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