Cocoon, Band 01
Es ist ein gewaltsamer Übergriff, diesen Faden zu entfernen – wie ein Frevel wider die Natur. Er ist die Lebensader dieses Gefüges, und alles, was dieser Faden berührt, wird unwiederbringlich beschädigt sein, so sehr wir auch versuchen werden, es zu reparieren.
Ich nehme einen Silberhaken von der kleinen Ablage des Webstuhls, schiebe ihn unter den ausgefransten Faden und befreie ihn vorsichtig von den anderen. Er löst sich schnell, und die Fäden neben der Lücke wirken heimatlos, nachdem ich ihre Stütze entfernt habe. Der Faden, der an meinem Haken hängt, war der Ausgangspunkt so vieler anderer. Sein Verschwinden bleibt für sie nicht folgenlos.
Doch ich fühle nichts. Ich warte auf Tränen oder ein Würgen im Hals, doch ich spüre nichts als Taubheit.
»Nun können wir es zur Reparatur schicken«, sagt Loricel leise.
Ich nicke, und Loricel gibt einen neuen Code ein. Das übrige Gewebe bewegt sich langsam vom Webrahmen herunter und kriecht in die Reparaturabteilung, die das Geflecht wieder zusammenfügt, das Loch stopft und die ausgefransten Enden glättet, die durch das Abtrennen des einen Fadens entstanden sind.
» Du könntest es reparieren«, sage ich.
»Ja, das könnte ich, aber dafür bin ich nicht hier. Du musst eine bittere Wahl treffen, bevor du weitermachen kannst. Entscheidungen sind unvermeidlich. Oft geht es dabei um Leben und Tod. Es ist schwer, sich für eine Sache zu entscheiden, um Zehntausende zu retten, wenn dabei einer unter die Räder kommt.« Ihre Stimme ist ein ausdrucksloses Flüstern, und ein Schatten huscht wie ein Gespenst über ihre Miene. »Es ist einfacher, wenn man nicht in diese Situation gebracht wird. Als Stickmeisterin kannst du neue Orte erschaffen – Meere, Seen, Häuser, Felder. Das kann befriedigend sein«, fährt sie fort, und ich schaue ihr dabei zu, wie sie einen weiteren Code in die Komkonsole eingibt.
Kurz darauf erscheint ein neues Gefüge aus Arras auf dem Webrahmen. Es ist beinahe blank, nur ein zarter grüner Hauch glänzt auf den goldenen Strängen, und sie klickt auf das Zoomrad, um die Einzelheiten näher heranzuholen. Es ist ein schlichtes Landstück. Vielleicht ein Park oder ein Feld irgendwo außerhalb einer Metro. Keine Bäume, keine Felsen, lediglich ein Tal aus saftigem, grünem Gras. Erst als Loricel eine kleine Tasche neben dem Webrahmen abstellt, fällt mir auf, dass sie sie die ganze Zeit getragen hat. Sie bedeutet mir, dass ich ihr meinen Stuhl überlassen soll.
»Normalerweise arbeite ich in meinem eigenen Atelier, doch heute habe ich meine Ausrüstung mitgebracht«, sagt sie mit freundlichem Lächeln. »Du musst ein Gefühl für deinen Webstuhl bekommen. Ich bin ermächtigt, das Gewebe auf jeder beliebigen Maschine aufzurufen. Da ich dir zeigen muss, wie man zerstört, will ich dir zum Ausgleich auch demonstrieren, welche Schönheit wir schaffen können.«
Aus der Tasche zieht sie Spulen dünnen blauen Zwirns. Wie Rohmaterie aussieht, lässt sich nur schwer beschreiben. Die Farben der Fasern sind nicht mehr als eine Andeutung – eher das Versprechen einer Farbe als ihre eindeutige Ausprägung. Als wüsste ich nur deshalb, dass es blau ist, weil ich die Farbe vorher schon einmal gesehen habe. Der Faden selbst fühlt sich kühl und leicht an, und wenn sie ihn abwickelt, schimmert und funkelt er vor Energie.
Dies ist das Rohmaterial, das von den geübten Händen der Webjungfern eingeflochten wird und aus dem alle Dinge in Arras bestehen. Mir ist es unmöglich, allzu viel darüber nachzudenken, denn ein Teil meiner Begabung kommt von dem angeborenen Verlangen meiner Hände, zu weben. Bei der Tätigkeit spielt mein wacher Verstand nur eine Nebenrolle. Ich habe schon einmal etwas zu Arras hinzugefügt, aber damals bin ich dem strikten Muster gefolgt, das erfahrenere Webjungfern vorher festgelegt hatten.
Nachdem Loricel behutsam ein paar der grünen Fäden auf dem Rahmen entfernt hat, nimmt sie eine blaue Faser auf und fädelt sie durch das Öhr einer kleinen, feinen Nadel. Dann fängt sie an, das Garn hineinzuweben. Sie arbeitet zügig, aber fachmännisch, zieht das Grün heraus und webt das Blau tief hinein. Als ein ganzer Abschnitt ersetzt ist, nimmt sie ein weiteres Stück reiner Faser und bestickt damit die Ränder.
Als ich klein war, verzierte meine Mutter Küchenhandtücher und Tischdecken mit Kreuzstichmustern. Die Technik ist ganz ähnlich, doch Loricel verwendet keine Muster, und ihre Stickerei hellt den Abschnitt eher auf.
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