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Cocoon, Band 01

Cocoon, Band 01

Titel: Cocoon, Band 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Albin
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Selbst in diesem abstrakten Stadium sieht das Gewebe atemberaubend aus.
    »Damit wird verknüpft, was neu hinzugefügt wurde«, erklärt sie, während sie ihre Stickarbeit beendet. »Dies ist der Schlüssel, um das Gewebe nachhaltig zu verändern.« Nachdem ihr Werk getan ist, verstaut sie die übrige Rohmaterie in ihrer Tasche und klickt wieder auf das Zoomrad des Webstuhls. Wo sich mir eben noch ein schlichtes Tal gezeigt hat, befindet sich nun ein strahlender See. Eine Wasserquelle für die Bewohner der Gegend.
    »Später können die Bauern Fische hinzufügen, und das Dorf kann daraus Essensrationen gewinnen«, erklärt sie. »Ich sticke besonders gern Seen. Wasser schlägt bei mir eine Saite an.«
    Ich bin sprachlos vor Staunen, denn endlich verstehe ich, welche bedeutende Rolle Loricel einnimmt. Mit dem abgetrennten Faden von vorhin in der Hand, empfinde ich den Kontrast zwischen mir und der Frau neben mir umso deutlicher.
    Sie ist das Leben. Ich bin der Tod.
    Es erstaunt mich nicht, dass Enora mir am Abend während unserer Essensschicht auf dem Weg zum Speisesaal eröffnet, dass ich für die Arbeit einer Stickmeisterin ausgebildet werden soll. Ich sitze neben ihr am Tisch und beobachte, wie Pryana ihren Platz an der Stirnseite einnimmt – neben meinem leeren Stuhl. Die Sitzordnung richtet sich nach unserem Ansehen. Nun sitzt nur noch Pryana, die immer noch in der Ausbildung ist, am Tischende. Auf alle anderen macht sie den Eindruck, als würde es ihr nichts ausmachen, doch ich erkenne das leichte, wütende Erröten ihrer Wangen, als sie mich am vorderen Ende erblickt. Es tut mir leid für sie. Ich habe wenigstens Enora, aber Pryana muss allein sitzen, vom Rest der Gruppe abgeschnitten. Bestimmt hasst sie mich dafür umso mehr.
    »Wie lange lernst du nun schon, meine Liebe?« Die Webjungfer, die diese Frage an mich richtet, dehnt ihre Worte so sehr, dass sie wie warmer, dicker Honig klingen, der ihr langsam von der Zunge trieft. Sie muss aus den südlichen Gegenden von Arras kommen. Im westlichen Sektor sprechen wir nur mit leichtem Akzent.
    »Welcher Tag ist heute?« Durch das Reisen habe ich die Zeit aus dem Blick verloren.
    Die Webjungfer lässt ein träges Kichern hören. »Wir haben den fünften Oktober, meine Liebe.«
    Die noch immer sonnenwarme Luft hatte etwas trügerisches, als ich den schicksalhaften Fehler bei der Prüfung zu Hause gemacht habe. Die Blätter waren noch kaum verfärbt, und auf dem Heimweg bekam ich vielleicht rote Wangen, brauchte aber noch keine Jacke. Das war im September. Nur ein paar Wochen habe ich im Konvent verbracht. In vielerlei Hinsicht erscheint mir mein Leben in Romen wie eine verblasste Erinnerung an etwas längst Vergangenes, und doch ist es, als sei es erst gestern gewesen, dass mich meine Mutter mein Zimmer aufräumen ließ oder dass ich Amies Haare zu Zöpfen geflochten habe. Meine Erinnerungen daran sind lebhaft, aber sie verschwimmen an den Rändern, als würden sie mir entgleiten.
    »Weniger als einen Monat«, sage ich laut. Ich verrate ihr nicht, wie viele Tage davon ich in der Zelle verbracht habe.
    »Einen Monat?« Sie bekommt große Augen, und ihre dick aufgetragenen Lidstriche wirken aufgesetzt und furchterregend. »Damit hältst du bestimmt einen Rekord.«
    Einige nicken staunend. Enora, die sich mit der Frau neben ihr unterhalten hat, bemerkt mein Unbehagen und mischt sich ein. »Sie hat beim Eignungstest eine hohe Wertung erreicht, und wir brauchten in der Stickmeisterei etwas Hilfe, deshalb haben wir sie geholt.«
    Sie lächelt herzlich, und alle entspannen sich wieder und widmen sich ihren Unterhaltungen – bis auf die Webjungfer aus dem Süden, deren Blick immer noch grimmig auf Enora ruht. Sie wirkt plötzlich wie ein Tier im Käfig, verängstigt und kampflustig zugleich. Mir gefällt nicht, wie sie meine Mentorin anstarrt. Wer kann sich durch Enora schon bedroht fühlen? Ich nehme mir vor, dieser Frau künftig aus dem Weg zu gehen. Sie ist eine Streberin.
    Ich tue so, als interessierte ich mich nur für mein Essen, doch ich spüre die Blicke auf mir. Als ich aufschaue, bemerke ich Maela, die mich mustert. Wir befinden uns ungefähr auf derselben Höhe am Tisch. Sie führt die niederen Webjungfern an, und ich bilde das Schlusslicht der erfahreneren Webjungfern und werde zur Stickmeisterin ausgebildet, deshalb gibt es eine gewisse Überschneidung. Ich sehe, wie die Rädchen in ihrem Kopf arbeiten. Ihr gedankenversunkener Blick, die geschürzten Lippen

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