Codename Hélène
Militärs nicht. Mag sein, dass sie einen bestimmten Verdacht hatten, ganz sicher aber hatten sie keine Beweise. Und sie dachten nicht daran, selbst noch so spärliche Informationen mit den SS -Typen zu teilen oder in den Akten zu erwähnen, wer die »Weiße Maus« möglicherweise sein könnte. Wurde der Codename »Weiße Maus« gewählt im Bezug auf die wegen der Farbe ihrer Uniformen »Graue Mäuse« genannten Soldaten der Wehrmacht? Oder wegen Nancy Fioccas uncanny ability , ihrer verblüffenden Fähigkeit, alle Fallen zu meiden, wie Engländer ihren Decknamen »White Mouse« definierten?
Die Gestapo entschied nach der Totalbesetzung Frankreichs den Machtkampf mit der Abwehr für sich und hatte ab Ende 1942 dann ungehindert Zugriff auf deren Akten. Aber in denen scheint nur ein vager Verdacht notiert gewesen zu sein, mehr offenbar nicht – und kein weiterer Hinweis als jener, dass es in Marseille offenbar eine geheimnisvolle Frau geben musste, die eine entscheidende Rolle spielt im größten Fluchthilfenetzwerk des Südens. So viel wusste die Abwehr aus einer sicheren Quelle. Die Quelle war der englische Sergeant Harold Cole. Der wurde sowohl erpresst als auch bezahlt vom Geheimdienst. Erpresst mit seiner Vergangenheit, bezahlt für seine Zukunft. Damit er keinen Verdacht erregte, versorgten sie ihn in der Gegenwart mit einer stimmigen Biografie. Vieles in der stimmte tatsächlich. Cole war tatsächlich mal Sergeant der britischen Armee und tatsächlich mal stationiert in Frankreich und tatsächlich mal auf der Flucht. Allerdings nicht vor den Nazis, um der Gefangenschaft zu entkommen, sondern vor der französischen Kriminalpolizei, weil er die Regimentskasse seiner Einheit geklaut hatte. Als er bei einer Razzia in Paris aufflog, überstellte ihn die Gendarmerie den Deutschen.
Und die ließen ihm die Wahl zwischen Lager in Deutschland oder Spitzeltätigkeit in Frankreich. Zusätzlich würden sie einen Judaslohn auf ein Konto in der Schweiz einzahlen, auf das er Zugriff habe, sobald sein Auftrag erfüllt sei. Dieser lautete, ein Netzwerk der Résistance zu infiltrieren und alles über dessen Unterstützer und Helfer und Verstecke zu berichten. Die Entscheidung fiel Cole nicht schwer. Moralische Bedenken hatte er eh nicht. Er war sich selbst schon immer der Nächste gewesen. Sein Strafregister in England war lang.
In Marseille wurde er, gestrandet auf seiner angeblichen Flucht als britischer Soldat, zunächst aufgenommen in der Seemannsmission. Die war für alle Briten die erste Anlaufadresse. Hochwürden Donald Caskie, der Presbyterianer, der sie leitete, erteilte nicht nur Trost im Namen des Herrn, er wusste auch Rat auf Erden. Denn insgeheim gehörte auch er zu einem Fluchthilfenetzwerk. Coles Legende überzeugte ihn. Dieser Mann schien für ganz bestimme Aufträge geeignet zu sein, bei denen es hauptsächlich auf physische Präsenz ankam. In der Unterwelt von Marseille beispielsweise. Außer Strategen an der Spitze brauchte man im Untergrund handfeste Typen, die in kriminellen Milieus auftreten konnten, wo es nicht auf starke Worte ankam, sondern auf starke Fäuste. Cole passte ins Anforderungsprofil in jenem Netzwerk, das die Abwehr respektvoll bereits mit Scarlet Pimpernel verglich. Die deutschen Profis vermuteten auf der Gegenseite als Strategen einen ähnlich klugen Kopf, wie er in dem gleichnamigen Roman von Emma Orczy beschrieben wird. Darin rettet ein englischer Edelmann mit seinen Getreuen zu Zeiten der Französischen Revolution viele Adlige vor der Guillotine und verhilft ihnen zur Flucht nach England.
Allerdings wussten sie nicht, wer dieser Kopf war und wer seine Getreuen. Das sollte Harold Cole herausbekommen, der fortan nur noch Paul hieß. Sich ausschließlich mit erfundenen Vornamen anzusprechen, war in allen Netzwerken eiserne Regel. Nur die Männer an der Spitze wussten, wie wer wirklich hieß. So sollte Verrat selbst unter Folter verhindert werden. Was als Strategie wohl überlegt war, aber scheitern musste, falls ein Verräter bereits Teil des Netzwerks geworden war. Wie Paul alias Harold Cole. Der Kontaktmann zur Unterwelt von Marseille kannte die besten Fälscher, er bezahlte die falschen Pässe und erregte keinen Verdacht, weil er seine Aufträge prompt erledigte. Die Namen allerdings, die in den gefälschten Papieren standen, übermittelte er an die Abwehr in Paris. Irgendwann auch präzise Beschreibungen und Angewohnheiten der entscheidenden Männer an der Spitze des Netzwerks. Dass
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