Codename Hélène
notgedrungen das tödliche Handwerk. Nancy Wake war darin viel besser als er. Offensichtlich hatte sie weniger Hemmungen, kräftig zuzuschlagen. Vor allem einen bestimmten Griff übte sie immer wieder: wie man im Nahkampf auch einen physisch überlegenen Gegner ausschaltet.
Denis, den seine Freunde Denden nannten, verschwieg vor allem dann nie seine Neigungen, wenn ihm Frauen begehrend zu Leibe rücken wollten. Auf den Gedanken, mit ihm etwas anzufangen, wäre Nancy Wake jedoch selbst vor ihrem Gespräch mit Buckmaster nie gekommen. Sie mochte ihn einfach als Kumpel, als Buddy, denn er war witzig und frech und keiner jener Macho-Krieger wie die, denen sie den Spaß mit den Kondomen versaut hatte. John Farmer schätzte die technischen Fähigkeiten, und natürlich kannte er als Chef des kleinen Unternehmens Freelance alle Details aus Rakes Personalakte. Beide aber wussten, sosehr sie ihn auch schätzten: Man konnte sich nie hundertprozentig darauf verlassen, dass Denis, wegen möglicherweise spontan aufkeimender Lust auf Nähe, sobald er einen attraktiven Kerl vor Augen hatte, auch wirklich genau dort bereitstand, wo es verabredet worden war: »We were both fond of him, but knew he could be completely unreliable.«
Dass er in gefährlichen Situationen überlegt und mutig handelte, hatte er früher nicht nur auf hoher See bei der Minensuche bewiesen, sondern bereits in den Jahren vor dem jetzt anstehenden Unternehmen bei SOE -Einsätzen im damals noch freien Teil Frankreichs als Fluchthelfer in verschiedenen Netzwerken. Auch das stand in seinen personal files. Zur Tarnung seiner eigentlichen Aufträge und seiner Herkunft trat er damals singend oder tanzend in Nachtklubs und Kabaretts auf, was ihm zudem Spaß machte, weil er dort seinesgleichen fand. Agentin Hélène kannte er weder unter diesem Namen noch als Nancy Fiocca. Er hatte sie nie getroffen bei den Bewohnern der Hinterzimmer in der Praxis von Georges Rodocanachi. Sie erfuhren erst in der Ausbildung, wie nahe sie sich einmal schon gewesen waren. Schon damals nahm er es nicht gar so genau mit den Vorschriften. Die Safe-House -Adresse des Doktors hatte er sich nicht etwa eingeprägt, wie es Pflicht war und was ihm leichtgefallen wäre, sondern auf einen Zettel geschrieben. Den hielt er in der Hand, als er zum ersten Mal in der 21 Rue Roux de Bignoles in Marseille klingelte.
Leichtsinnig, ja, das war er wohl. Aber sobald ihn dieser Leichtsinn in Gefahr brachte, spielte er seine wesentlichen Qualitäten aus. Er brauchte keine Stichworte aus der Kulisse, keine Anweisungen von der Regie, keine Hilfe aus dem Publikum. Denis Rake improvisierte mit eigenen spontanen Einfällen. Zum Beispiel in einem Stück aus dem wahren Leben im Sommer 1942 : Weil er durch den Verrat einer enttäuschten Madame, nach der ihm nicht der Sinn stand, von der Gendarmerie Nationale als verdächtiger Ausländer verhaftet worden war, noch 47 8 00 Francs in der Tasche von den ursprünglich 100 0 00 der SOE , mit denen er via Gibraltar an der Küste Frankreichs gelandet war, schien sein Schicksal besiegelt. So viel Geld deutete entweder auf Aktivitäten in einem Fluchthilfenetzwerk oder auf Schwarzmarktgeschäfte hin. Beides war verboten, beides wurde bestraft. Das eine mit Internierung, das andere mit Zwangsarbeit. Immerhin eine Alternative. Wäre er den Deutschen in die Hände gefallen, hätte es keine gegeben. Seine Erklärung, das Geld stamme aus dem Verkauf eines Cafés in Nantes, glaubte niemand. Er sollte in einem Lager des Vichy-Regimes inhaftiert werden.
Da tauschte er entschlossen das Geld gegen Freiheit, bestach mit genau 47 0 00 Francs seinen Bewacher, sprang bei einem Halt aus dem Zug, der ihn in die Haftanstalt bringen sollte, und schlug sich mit den restlichen paar hundert Francs durch ins besetzte Paris. Dort herrschte zwar die Wehrmacht. Aber die Welt des Montmartre, die ihm vertraut war, musste noch nicht am deutschen Wesen genesen, sondern durfte, solange alle brav mitspielten und keine Juden waren, undeutsch leicht französisch bleiben. Savoir-vivre und chacun à son goût statt Razzien und Deportationen. Wie es den Besatzern gefiel. Hohe Kultur blühte ebenso wie die niedrige. Feine Damen gaben sich dem Feind leichtherzig hin wie leichte Mädchen. Nazi-Botschafter Otto Abetz, so frankophil, wie die Pétainisten unter Pierre Laval deutschfreundlich waren, hatte ein Französisch-Deutsches Komitee gegründet, eine ideologisch heimelige Herberge für intellektuelle
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