Codex Alera 06: Der erste Fürst
schreckliche, pulsierende Parasitenkreatur umklammerte ihren Oberkörper. Ihr Haar war dunkel und zerzaust, ihre Augen eingefallen, ihre Haut von ungesunder Blässe.
»Das muss man sich einmal vorstellen!«, sagte Invidia. »Da habe ich nun die letzte halbe Stunde damit zugebracht, den ganzen Platz nach den Singulares abzusuchen, von denen ich mir sicher war, dass Attis sie versteckt hätte. Es ist gar nicht seine Art, Nichtvorhandensein als Tarnung zu nutzen, obwohl ich ja zugeben muss, dass sie auf diese Weise tatsächlich unmöglich zu finden waren. Hallo, Gräfin.«
Amara sah kurz ihren reglosen Mann an, ließ dann den Blick über den Platz unten wandern und biss die Zähne zusammen. »Geh zu den Krähen, Verräterin.«
»Oh, da war ich schon«, sagte Invidia leichthin. »Sie hatten begonnen, an meinen Augen und Lippen zu picken, als die Vord mich fanden. Ich habe nicht unbedingt die Absicht, die Erfahrung zu wiederholen.«
Amara spürte, wie ihr Mund sich zu einem eisigen Lächeln verzog. »Soll ich etwa Mitleid mit dir haben?«
»Komm, Gräfin«, antwortete Invidia, »es ist jetzt viel zu spät für uns alle, Wiedergutmachung für unsere Sünden leisten zu wollen.«
»Warum hast du mich dann nicht getötet und es hinter dich gebracht?«, antwortete Amara und hob das Kinn, um ihre Kehle noch weiter für Invidias Klinge zu entblößen. »Wir sind einsam, was? Vermissen die Gesellschaft unserer Mitmenschen? Brauchen einen Fetzen Respekt? Vergebung? Anerkennung?«
Invidia starrte sie einen Moment lang an, doch ihre Augen blickten durch Amara hindurch, als wäre sie gar nicht da. Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht«, sagte sie.
»Vielleicht hättest du darüber nachdenken sollen, bevor du begonnen hast, uns alle umzubringen«, stieß Amara hervor. »Du trägst keinen Züchtigungsring wie die anderen. Sie sind Sklaven. Du bist frei. Du bist aus eigenem Willen hier.«
Invidia lachte bitter auf. »Glaubst du das wirklich? Dass ich eine Wahl habe?«
Amara zog eine Augenbraue hoch. »Ja. Zwischen dem Tod und der Vernichtung deines eigenen Volks. Du könntest den Vord trotzen und an dem Gift sterben, das du noch in dir trägst – einen schrecklichen Tod sterben. Aber stattdessen hast du dich entschlossen, lieber alle anderen an deiner Stelle sterben zu lassen.«
Invidias Augen weiteten sich, und ihre Lippen hoben sich in einer unnatürlichen Grimasse von ihren Zähnen.
»Das wirklich Traurige«, sagte Amara, und nackte Verachtung klang in ihrer Stimme durch, »ist aber, dass es am Ende keinen Unterschied machen wird. Sobald du eher eine Bedrohung als ein nützliches Werkzeug für sie bist, werden die Vord dich töten. Du selbstsüchtiges, launisches Kind! All das Blut klebt für nichts und wieder nichts an deinen Händen.«
Invidia biss die Zähne zusammen, und rote Flecken erschienen weit oben auf ihren Wangen. Ihr ganzer Körper begann zu zittern. »Für …«, flüsterte sie, »für wen hältst du dich?«
Amara lehnte sich an die Klinge und sah Invidia in die Augen. »Ich weiß, wer ich bin. Ich bin Gräfin Calderonus Amara, Kursorin der Krone, treue Dienerin Aleras und des Hauses Gaius. Selbst wenn es mich das Leben kostet, weiß ich, wer ich bin.« Sie bleckte nun selbst die Zähne zu einem wölfischen Lächeln. »Und wir wissen beide, wer du bist. Du hast deine Seite gewählt, Verräterin. Nun mach schon.«
Invidia stand reglos da. Die vielen Feuer bliesen einen heißen Wind über die Dächer. Irgendwo ertönte das Tosen zusammenbrechenden Mauerwerks, als ein Gebäude nicht länger standhielt. Das ferne Dröhnen des Feuerwirkens pulsierte in unregelmäßigen Abständen durch die Nacht. Aus weiter Ferne bildete die Verzweiflung der Trompeten und Trommeln der bedrängten Legionen eine ständige, kaum beachtete Hintergrundmusik.
»So sei es«, zischte Invidia.
Und dann geriet alles auf dem Dach explosionsartig in Bewegung.
Amara rief Cirrus, und der verletzte Elementar strömte in sie hinein und übertrug sowohl Schnelligkeit als auch Schmerz auf sie, während die Zeit sich zu verlangsamen schien. Amara stürmte vorwärts, ging in die Hocke und duckte sich unter dem raschen Schnitt hindurch, den Invidia gegen ihren Hals führte. Angesichts der elementargewirkten Kraft der früheren Hohen Fürstin bezweifelte Amara nicht, dass der Hieb tödlich gewesen wäre, wenn er getroffen hätte. Sie zog noch in der Bewegung das Knie an die Brust und ließ dann, während sie zugleich eine Hand senkte, um sie
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