Codex Alera 06: Der erste Fürst
Isana leise. »Octavian kommt nach Hause.«
Schweigen trat ein. Isana sah zu, wie die Mauern von Kaserna, der Festungsstadt, die ihr Bruder befehligte, größer und deutlicher wurden. Sie verwandelten sich von Linien in scharf umrissene Erhebungen und dann in Bauwerke aus fugenlosem, elementargewirktem Stein. Das Banner des Ersten Fürsten, ein scharlachroter Adler auf blauem Grund, flatterte in der Brise, und daneben das Banner ihres Bruders – ein brauner Bär im grünen Feld.
Die Stadt war schon wieder gewachsen, obwohl Isana doch erst vor zwei Wochen hier gewesen war. Man hatte die Hüttensiedlung, die unmittelbar vor den Mauern von Kaserna aus dem Boden geschossen war, durch solide Gebäude aus elementargewirktem Stein ersetzt und eine neue Mauer hochgezogen, um sie zu schützen. Danach war eine zweite Hüttensiedlung am Fuße dieser Mauer entstanden, und Isana war an dem Tag da gewesen, als Bernards Pioniere die dritte Mauer errichtet hatten, noch eine Schicht der konzentrischen Halbkreise, die die wachsende Stadt umhüllten.
Die Hütten waren verschwunden und von weiteren Steingebäuden ersetzt worden – fast quadratischen, klobigen Häusern, die sich sehr wenig voneinander unterschieden, aber Isana war sich sicher, dass sie ihren Zweck erfüllten und praktisch waren.
Und vor dieser dritten Mauer wuchs noch eine weitere Hüttensiedlung, wie Moos an der Nordseite eines Felsens.
Veradis riss die Augen auf, als sie den Ort sah. »Oh. Das ist eine ziemlich große Stadt, wenn man bedenkt, dass sie nur der Obhut eines Grafen anvertraut ist.«
»Es gibt heutzutage viele Heimatlose«, sagte Isana. »Mein Bruder wird dir wahrscheinlich eine vollkommen logische Erklärung dafür geben können, warum sie gerade hierher- gekommen sind, wenn du ihn fragen solltest. Aber die Wahrheit ist, dass er nie jemanden abgewiesen hat, der an seine Tür geklopft hat. Jeder, der so weit gekommen ist …« Sie schüttelte den Kopf. »Er würde für alle tun, was er kann, und sicherstellen, dass man sich um sie kümmert. Selbst, wenn er nichts tun könnte, als ihnen den Umhang zu geben, den er am Leibe trägt. Mein Bruder bringt zu Ende, was er angefangen hat.«
Veradis blickte nachdenklich drein. »Er hat Octavian erzogen, nicht wahr?«
Isana nickte. »Sie standen sich nahe.«
»Und deswegen hast du auch das Gefühl, dass Octavian zurückkehren wird. Weil er zu Ende bringt, was er angefangen hat.«
»Ja«, sagte Isana, »er kommt nach Hause.«
Veradis schwieg wieder einen Moment lang, als die Kutsche über die äußeren Mauern von Kaserna schwebte. Dann neigte sie den Kopf und sagte: »Wie du meinst, Herrin.«
Isana schob die hässliche Sorge von sich, die sich immer tiefer in ihre Gedanken grub, seit ihr Sohn mit der Canimflotte abgereist war.
Tavi würde nach Hause kommen.
Ihr Sohn würde nach Hause kommen.
Gaius Octavian, Sohn des Gaius Septimus, des Sohnes von Gaius Sextus und ungekrönter Erster Fürst von Alera, lag still auf dem Rücken und starrte zu den Sternen hinauf.
In Anbetracht der Tatsache, dass er auf dem Boden einer Höhle lag, war das wahrscheinlich kein gutes Zeichen.
Er durchsuchte sein sogenanntes Gedächtnis nach einer Erklärung dafür, warum er so etwas tun sollte und warum die Sterne so hell funkelten und sich so schnell drehten, aber er schien das Wissen darüber verlegt zu haben. Vielleicht hatte die Beule, die er auf seinem Schädel anschwellen spürte, sein Gedächtnis gelockert. Er nahm sich vor, Kitai zu fragen, ob sie es irgendwo auf dem Boden hatte herumliegen sehen.
»Ein recht lehrreicher Versuch, mein Kind«, murmelte eine Frauenstimme. »Verstehst du jetzt, warum es wichtig ist, nicht nur einen Luftstrom unter dir, sondern auch einen Luftschild vor dir aufrechtzuerhalten?«
Ah, ja, der Unterricht. Er nahm Unterricht. Büffelte sogar mit einer besonders scharfsinnigen Lehrerin für eine Prüfung. Er mühte sich ab, sich zu erinnern, welches Fach sie gerade behandelt hatten. Wenn er sich derart anstrengte, musste die Abschlussprüfung unmittelbar bevorstehen, und die Akademie war mit ihren Schülern im zermürbenden Chaos der Prüfungen nicht sehr nachsichtig.
»Sind wir bei Geschichte?«, murmelte er. »Oder Mathematik?«
»Ich weiß, dass es deinem Instinkt widerspricht, einen Luftstrom sowohl vor als auch hinter dir zu erzeugen«, fuhr seine Lehrerin in ruhigem Tonfall fort, »aber dein Körper ist nicht für Hochgeschwindigkeitsflüge geschaffen. Wenn du keine Maßnahmen
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