Codex Alera 06: Der erste Fürst
nicht ›unsere‹ Truppen, Invidia«, sagte die Königin. »Es sind meine. Und du denkst immer noch wie eine Aleranerin. Meine Truppen werden nicht desertieren, wenn ihnen der Hungertod droht. Sie werden keinem anderen Gefolgschaft leisten. Sie werden weder zögern zu gehorchen, noch sich weigern, auf meinen Befehl hin einen Feind anzugreifen. Hab keine Angst.«
»Ich habe keine Angst«, sagte Invidia kalt, mit klarer Betonung.
»Natürlich hast du welche«, sagte Isana ruhig. »Ihr seid beide völlig verängstigt.«
Invidias kalte Augen und die fremdartigen der Königin wandten sich ihr zu und blieben auf ihr ruhen. Isana fand, dass solche Augen irgendwie Waffen glichen, ziemlich gefährlichen sogar. Sie dachte auch, dass sie eigentlich selbst hätte Angst haben sollen. Aber angesichts der vergangenen Tage hatte sie Schwierigkeiten, Angst noch sehr ernst zu nehmen. In der ersten Zeit ihrer Gefangenschaft hätte die Furcht vielleicht noch eine größere Wirkung auf sie gehabt. Jetzt … nicht mehr. Sie machte sich wirklich größere Gedanken um die Tatsache, dass sie seit Tagen nicht gebadet hatte, als um die, dass ihr Leben sich vielleicht dem Ende zuneigte. Das Entsetzen hatte sich zu Besorgnis abgenutzt, und Besorgnis war für jede Mutter eine altbekannte Gefährtin.
Isana nickte der Königin in geheuchelter Unterwürfigkeit zu und sagte: »Dir ist von der ersten aleranischen Streitmacht, die wirklich darauf vorbereitet war, dir Widerstand zu leisten, ein harter Schlag versetzt worden. Natürlich ist es nicht ganz nach ihrem Willen gegangen, weil du heillos mächtig bist. Aber trotz alledem hält das Tal stand, und Tausende deiner Krieger sind tot. Und deine Gegner sind bereit weiterzukämpfen. Der Kampf kommt dir hoffnungslos vor, und doch halten sie durch, kämpfen und sterben – was dich vermuten lässt, dass der Kampf vielleicht doch nicht hoffnungslos ist. Dennoch kannst du nicht verstehen, wieso. Du fürchtest, dass du irgendein Detail übersehen hast, eine Tatsache, einen Faktor, der all deine sorgsamen Berechnungen verändern könnte – und das macht dir Angst.« Isana wandte sich Invidia zu und fuhr fort: »Und du. Du tust mir beinahe leid, Invidia. Du hattest wenigstens noch deine Schönheit. Und nun ist auch die dahin. Der einzige Zufluchtsort für dich und deine größte Hoffnung ist die Herrschaft über ein Königreich der Kinderlosen, Alternden und Sterbenden. Selbst wenn du deine Krone annimmst, Invidia, weißt du, dass du nie bewundert und nie beneidet werden wirst, dass du nie Mutter werden wirst – und nie geliebt werden wirst. Die, die diesen Krieg überstehen, um unter dir zu leben, werden dich fürchten. Dich hassen. Dich, wie ich mir vorstellen kann, sogar töten, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Und am Ende wird niemand mehr übrig sein, um sich an deinen Namen zu erinnern, und sei es nur als Fluch. Deine Zukunft ist, ganz gleich, was geschieht, eine lange und schreckliche Qual. Das glücklichste Ende, auf das du hoffen kannst, ist ein schneller und schmerzloser Tod.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich … Du tust mir wirklich leid, meine Liebe. Ich habe gute Gründe, dich zu hassen, aber du hast dir selbst ein Schicksal eingebrockt, das schlimmer ist als jedes, das ich mir hätte ausdenken können. Natürlich hast du Angst.« Sie faltete die Hände im Schoß und setzte ruhig hinzu: »Und jetzt macht ihr euch beide Sorgen, weil ich so viel über euch weiß. Darüber, wer ihr seid. Darüber, was euch antreibt. Ihr fragt euch beide, was ich noch weiß und wie ich es gegen euch einsetzen könnte. Und warum ich hier und jetzt enthüllt habe, was ich weiß. Und du, einsame Königin, fragst dich, ob du einen Fehler begangen hast, indem du mich hergebracht hast. Du fragst dich, was Octavian von seinem Vater geerbt hat – und was von mir kam.«
Schweigen erfüllte das Nest. Keine der beiden halben Frauen, mit denen sie sprach, rührte sich.
»Glaubt ihr«, fragte Isana im Plauderton, »dass es möglich wäre, heute Abend zum Essen heißen Tee zu servieren? Ich fand eine gute Tasse Tee schon immer höchst …« Sie lächelte sie an. »… tröstlich.«
Die Königin starrte sie eine Weile an. Dann wirbelte sie zu Invidia herum und zischte: »Du darfst die verbliebenen Wirker nicht haben.« Damit schritt die Vordkönigin aus dem Nest, und der Saum ihres zerlumpten Kleids flatterte hinter ihr her.
Invidia sah der Königin nach und wandte sich dann Isana zu. »Bist du verrückt ?
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