Codex Mosel
hervorquollen.
*
Draußen knirschte es. Veit schreckte aus seiner Meditation auf. Seine rechte Hand griff instinktiv an seinen Gürtel. Seit vielen Jahren trug er dort eine Waffe – Tag und Nacht.
Veit zählte drei Personen, die nacheinander durch den feinen Steinsplitt in der Maueröffnung sein Territorium betraten. Mit der linken Hand fuhr er sich über die scharfen Stoppeln zwischen dem blutigen Schorf auf seinem geschorenen Schädel. Es war nicht der erste Besuch. Erst vor Monaten waren es neugierige Straßenarbeiter gewesen, die von der Baustelle unten an der Mosel hier heraufgekommen waren. Veit stülpte sich die dicke Mütze über den Kopf.
Das helle Klicken ließ augenblicklich seinen Körper mit Adrenalin fluten. Er drückte das Brett zur Seite und kroch in den engen Tunnel. Die heißen Steine des Kamins versengten seine Oberarme.
*
Wo war der Eingang der Hütte? An der Front befand sich nur das Fenster mit der schwarzen Scheibe. Gabi und Grabbe bewegten sich nach links. Walde, unbewaffnet wie Grabbe, schlich zum Fenster, wo er sich rechts, an der Seite zum Kamin, postierte. Er hörte einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem Aufstöhnen.
»Depp«, zischte Gabi, offensichtlich noch im Freien.
Walde lauschte. Endlose Sekunden tat sich nichts. Falls sich jemand in der Hütte aufhielt, war er spätestens jetzt gewarnt.
»Was ist los?« Er hielt es nicht mehr aus.
Keine Antwort.
Durch die Ritzen zwischen den Balken war ein Aufschrei zu hören. Das war Gabis Stimme.
Walde machte zwei Schritte zum Kamin und griff nach dem erstbesten Sandstein in der oberen Schicht. Der Stein war nur aufgelegt. Walde stemmte ihn hoch und ließ ihn, im letzten Moment zwei hastige Schritte rückwärts stolpernd, sofort wieder los. Knapp einem mehrfachen Zehenbruch entgangen, klatschte er seine schmerzenden Handflächen auf die nasse Teerpappe des Dachs.
Drinnen rummste es. Walde riskierte es, das Fenster zu verlassen und zu der Holztür zu laufen.
Sie stand nach außen offen. Das erklärte Grabbes Stöhnen, der offensichtlich vergeblich versucht hatte, die Tür aufzutreten.
Walde zog den Kopf tief zwischen die hochgezogenen Schulterblätter und tauchte in die Hütte ein.
Im Licht der offenen Tür sah er auf ein Schlaflager aus Brettern und einen Sessel, ein Regal mit Büchern und einer Ausgabe des Nachrichtenmagazins,Der Spiegel’. Links war es dunkel.
»Gabi? Grabbe?« Seine Rufe bekamen einen Hall, den er nicht erwartet hatte.
»Der Vogel ist ausgeflogen«, kam Gabis Stimme von links aus dem Dunkel.
Walde starrte in die Finsternis. Ein rotes Lämpchen erschien und darüber ein gespenstisch beleuchteter dunkler Haarschopf. Ein lockender Zeigefinger rief in ihm das Bild von der Hexe im Knusperhäuschen wach. »Das musst du dir ansehen!«
Walde tastete sich vorsichtig an der rauen Felswand entlang. In einer Nische fand er seine beiden Kollegen, die andächtig zu einem von Kerzen in roten Plastikhüllen beleuchteten altarähnlichen Aufbau schauten.
»Ooh«, entfuhr es Walde.
Auf vier goldenen Löwenfüßen thronte der über und über mit Elfenbeinplatten, Goldschmiedewerk und Edelsteinen verzierte Andreas-Tragaltar. Der lebensgroße goldene Fuß auf dem Deckel des Kästchens schien sich im flackernden Lichtschein zu bewegen.
*
Veit versuchte, sich die Gesichtszüge des groß gewachsenen Mannes einzuprägen, der gerade den beiden anderen in die Hütte gefolgt war. Er schlich hinter dem Steinhaufen hervor zum Balken, riss die Kutte herunter und stieg leichtfüßig wie eine Katze in der Felsspalte auf.
Hoch oben vom Felsvorsprung warf er einen letzten Blick zurück, bevor er im Wald verschwand. So blieb ihm verborgen, dass sich von der Kaiser-Wilhelm-Brücke eine Armada von Fahrzeugen mit Blaulicht näherte und sich wenig später Polizeiwagen und Kombis unten an der Straße aneinander reihten, während sein kleines Heiligtum von Eindringlingen entweiht wurde.
*
Als sie vorsichtig den Hang zur Straße hinabstiegen, entdeckte Walde unten zwischen Straße und Bahntrasse eine Kapelle. Das musste St. Jost sein.
Sie fanden ihren Wagen eingezwängt zwischen den Autos der Techniker. Der Verkehr auf der Straße floss langsam. In den Autos reckten Schaulustige die Hälse, um etwas vom Geschehen am Berghang zu erhaschen.
Gabi stieg auf der Fahrerseite ein. Walde nahm neben ihr Platz. Sie ließ den Motor aufheulen und schaltete das Blaulicht ein.
»Mach schon!«, rief sie ungeduldig.
Endlich saß auch Grabbe im Fond.
Weitere Kostenlose Bücher