Codex Mosel
liegt?«
»Du bist mit Blaulicht zu einer Beerdigung unterwegs?«
»Jo, es ist wirklich eilig!«
»St. Jost ist die Kapelle am Ortseingang. Dort war vor ein paar hundert Jahren eine Art Reservat für Lepra- oder Pestkranke. Der Friedhof ist, soviel ich weiß, auf der anderen Straßenseite oberhalb von einem steinernen Bildstock.«
»Also am Ortseingang links«, wiederholte Walde.
»Ja, oben unter den Felsen. Die stehen da in einem Neunziggradwinkel zueinander. Davor ist eine Sandsteinmauer. Allerdings sind keine Kreuze und Grabsteine mehr vorhanden.«
»Wir sind gleich da!«, rief Walde nach vorn.
Gabi schaltete Sirene und Blaulicht aus.
»Da vorne links.« Walde deutete auf den hohen Bildstock, über dem die Felsen näher an die Straße heranragten. »Da müssen wir hin.«
»Wo soll ich denn da halten?« Grabbe bremste den Wagen ab.
»Da oben, siehst du die Mauer?«
»Jaha, aber wir haben keinen Geländewagen. Ich bin ja schon froh, wenn wir auf den hohen Bordstein kommen.«
»Wir sind die Guten, die Bullen, wir dürfen überall halten.« Gabi gestikulierte wild. »Mach hin!«
Mit einem Ruck setzte der Wagen mit dem linken Vorderrad auf den Gehweg und hing, als das Hinterrad folgte, in Schieflage vor dem zur Straße geneigten Bildstock, der aussah, als seien sie dagegen gefahren.
»Danke, Jo, wir sind da.«
»Das ging aber schnell«, wunderte sich Jo. »Übrigens, ist heute nicht dein Vortrag?«
Walde schaute auf seine Uhr. »Erst in einer dreiviertel Stunde.«
»Wenn du nichts dagegen hast, komme ich in die Akademie. Ich bin sowieso anschließend bei der Stadtführung und heute Abend bei der Weinprobe dabei.«
»Danke, ich muss.« Walde legte auf.
Ein karg mit Löwenzahn und anderem Grünzeug bewachsener Hang führte steil und matschig hoch zu den Felsen. Walde folgte einer schmalen Spur, die er für die eines Wildwechsels gehalten hätte, wäre dort oben nicht die Öffnung in der Mauer gewesen. Hinter ihm keuchte Grabbe, von unten hörte er Gabi fluchen.
Es roch faulig und ein wenig angesengt. Die Öffnung in der Mauer war auf der rechten Seite von einem im letzten Drittel abgeschlagenen Quader gefasst, auf der gegenüberliegenden Seite waren die Steine herausgebrochen. Die unregelmäßig großen roten Steine waren zweifellos der Abfall eines ehemaligen Steinbruchs, wovon senkrechte und waagerechte Linien in der Felswand zeugten.
Als Walde auf die Uhr schaute, trafen Regentropfen seinen Arm. Grabbe blieb schwer atmend neben ihm stehen.
»Schöne Scheiße!« Gabi überwand mit unsicheren Schritten die letzten Meter. Sie trug ihre Schuhe in der Hand und versuchte, an der Kante eines Steins den Matsch von den Fußsohlen zu schaben. »Die Strümpfe sind hin.«
Walde sah an einem im Eingangsbereich wachsenden Lebensbaum vorbei auf ein rechteckiges Plateau, das zur Bergseite von Felswänden und zum Tal hin von einer über Eck laufenden mannshohen Mauer umgeben war. Zwischen den mit Efeu bewachsenen Steinen taten sich bogenförmige Lücken auf, hinter denen die Mosel und schemenhaft die Türme von St. Martin und St. Paulin zu sehen waren. Auf der kahlen Erde lagen neben zwei frischen Baumstümpfen in Stücke gesägte Stämme mit noch nicht verwelkten Blättern. Das Gelände schien frisch gerodet. Wollte hier jemand einen Garten anlegen?
Grabbe stupste ihn in die Seite und zeigte zum Fels hin. Walde machte ein paar Schritte und blickte auf eine Holzhütte aus massiven Bohlen. Ein großes abgedunkeltes Fenster mit weißem Kunststoffrahmen reichte bis zum Pultdach, das etwas überstand. Die unregelmäßigen Balken waren mit verschiedenen Materialien abgedichtet.
Das meiste schien aus buntem Kunststoff zu bestehen. Neben der kaum mehr als vier Meter breiten Hütte befand sich ein schmaler fensterloser Anbau, aus dem dünner Rauch aufstieg. Neben einem Hackklotz lehnte eine Axt.
Ein Balken lag auf dem Dach der Hütte und führte horizontal zu einem Nussbaum, der als einziger Baum auf dem Gelände direkt neben der Hütte stand. An ihm hing schlaff eine aus einem dünnen blauen Netz bestehende Hängematte. Ein an seiner übergroßen Kapuze aufgehängter dunkler Umhang bewegte sich an einem unsichtbaren Nagel.
Walde nahm das helle Plopp von Gabis Handtaschenverschluss wahr, das schwach von den Felswänden zurückgeworfen wurde. Kurz darauf klickte der Entsicherungshebel einer Pistole. Walde schaute an der steilen Felswand hoch, wo die halbrunden Äste einer Kiefer wie Krakenarme aus einem Spalt
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