Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
mir, der himmlisch war im Vergleich zu der Plörre, die ich fabriziert hatte, und begann, sich nach mir und meiner Herkunft zu erkundigen, ob ich aus Reykjavík käme und was ich in Kopenhagen machte. Ich versuchte, höflich darauf zu antworten. Sie spürte, dass ich etwas zurückhaltend war, und lächelte.
»Hat er hier bei Kriegsende gewohnt?«, fragte ich zögernd. »Bei dir?«
»Hat er dir davon erzählt?«
»Er hat mir erzählt, was im Shell-Gebäude passiert ist.«
»Er hielt sich in den Wochen danach hier bei mir auf, bis die Nazis aus Dänemark flohen. Das, was da im Shell-Gebäudepassiert ist und wie sie ihm das Buch geraubt haben, hat ihn furchtbar mitgenommen. Ich glaube, dass er sich nie davon erholt hat. Dieses Buch bedeutet ihm alles.«
»Er hat mir gesagt, dass du und seine verstorbene Frau Gitte Zwillingsschwestern wart«, sagte ich.
»Das ist richtig, ich kam sieben Minuten nach ihr auf die Welt, doch sie hat sie Jahrzehnte vor mir verlassen. Tuberkulose ist eine furchtbare Krankheit. Sie musste so lange leiden, und das setzte ihm grauenvoll zu. Es war so furchtbar für ihn, Gitte sterben zu sehen.«
»Sie hatten keine Kinder«, sagte ich, um irgendetwas zu sagen.
»Nein.«
Sie trank einen Schluck Kaffee. Der Verkehrslärm aus der Stadt drang bis in die Krystalgade.
»Sie waren gegen ihn«, sagte Vera.
»Gegen ihn? Wer?«
»Meine Familie. Mein Vater hat versucht zu verhindern, dass sie heiraten. Er wollte nicht zulassen, dass irgendein dahergelaufener Isländer seine Tochter heiratet. Meine Mutter geriet außer sich, als sie hörte, dass Gitte mit ihm zusammen war. Sie haben mit allen Mitteln versucht, diese Ehe zu verhindern.«
»Das muss schwierig für Gitte gewesen sein.«
»Nach der Hochzeit haben sie ihre Tochter völlig fallen lassen«, sagte Vera. »Er hat das Haus meiner Eltern nie betreten dürfen. Papa und Mama haben jegliche Verbindung zu Gitte abgebrochen, aber ich natürlich nicht. Ich weiß, dass sie sich mit Gitte und ihm ausgesöhnt hätten, wenn sie sich bloß dazu durchgerungen hätten, ihn kennenzulernen.«
»War es, weil er Isländer war?«
»Sie kannten ihn natürlich überhaupt nicht, er war einige Jahre älter als Gitte, und, ja, er war Ausländer. Ein mittelloserIsländer aus einer unbedeutenden Familie. Hier hielt man nicht viel von Isländern. Es hat nichts genutzt, ihnen zu sagen, dass er Akademiker ist und eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Für sie war er ein windiger Künstlertyp.«
Ich dachte darüber nach, ob es stimmen konnte, was sie über die dänische Einstellung Isländern gegenüber gesagt hatte, denn ich erinnerte mich daran, dass viele Isländer in früheren Zeiten verantwortliche Positionen am dänischen Hof und andere hohe Ämter innegehabt hatten.
»Meine Familie war total versnobt«, fuhr Vera fort. »Mein Vater war königlicher Hofschneider, und das war Grund genug, sich für etwas Besseres zu halten.«
Ich traute mich nicht, sie zu fragen, ob sie jemals geheiratet hatte. Anzeichen dafür waren nirgends zu sehen, nichts in der Wohnung erinnerte an etwas wie ein Familienleben. »Aber Gitte liebte ihn und ließ sich glücklicherweise nicht davon abhalten, ihn zu heiraten«, erzählte sie weiter. »Wir standen einander sehr nahe, wie es ja meist bei Zwillingen der Fall ist, und ich wusste genau, wie sehr sie ihn liebte. Ich lernte ihn natürlich auch kennen, und mir war sehr bald klar, was Gitte in ihm sah. Ich wusste genau, wonach sie suchte und weswegen sie sich nicht umstimmen ließ. Es ging nicht um ein aufsässiges junges Mädchen.«
Bei diesen Erinnerungen musste Vera unwillkürlich lächeln.
»Das muss aber auch schwierig für ihn gewesen sein«, warf ich ein.
»Er hat sehr darunter gelitten. Es kam ihm so vor, als würde er Gitte aus ihrer Familie reißen. Er hatte das Gefühl, nicht gut genug für sie sorgen zu können, was natürlich falsch war. Sie war sehr glücklich mit ihm.«
Vera holte die Thermoskanne und goss nach.
»Ihr Tod hat ihn furchtbar mitgenommen«, sagte sie.
»Wart ihr euch sehr ähnlich?«, fragte ich.
»Äußerlich gesehen ja. Gitte war vielleicht zurückhaltender. Aber sie verstand es, das Leben zu genießen, und darum habe ich sie manchmal beneidet. Ich habe sie beneidet um das Glück, von dem sie immer umgeben war, sogar in ihrer Krankheit. Nur eines hat sie zutiefst bedauert, nämlich, dass sie keine Kinder bekommen hatten.«
In diesem Augenblick ging die Wohnungstür auf, und der Professor kam
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