Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
um äh …«
»Ja, ja«, sagte er, »das wollen alle, aber was treibt dich dazu? Was will ein junger Mann wie du mit diesen alten Handschriften?«
»Ich …«
»Kannst du Handschriften lesen?«
»Ja«, antwortete ich.
Alle, die in Island Nordische Philologie studierten, lernten, alte Texte und Handschriften zu lesen. Ich will mich nicht selbst loben, aber ich verstand mich viel besser darauf als alle meine Kommilitonen. Das hatte unter anderem auch in dem Empfehlungsschreiben gestanden.
Der Professor stand auf, ging zu dem Bücherschrank hinter dem Schreibtisch und ließ die Finger über die alten Lederrücken gleiten. Er holte ein großes, dickes Buch heraus und öffnete es.
»Mein Spezialgebiet ist die Eyrbyggja saga «, begann ich, »und wenn Sie die Empfehlung gelesen hätten…«
»Svenni ist dümmer, als die Polizei erlaubt«, erklärte der Professor, und ich begriff nicht gleich, dass er damit Dr. Sigursveinn meinte.
»Aber Sie …«
»Was habe ich gerade übers Siezen gesagt?«, fragte er scharf und schaute aus dem Buch hoch. »Hör bloß auf damit.«
Er blätterte weiter in dem Buch, während er mit mir redete.
»Du scheinst mir etwas begriffsstutzig zu sein, Valdemar. Vielleicht liegt es daran, dass du zum ersten Mal im Ausland bist und die Großstadt dir den Atem verschlägt. Vielleicht hast du aber auch Heimweh und vermisst deine Tante. Oder du bist von Natur aus begriffsstutzig, das weiß ich nicht. Falls du mich noch ein einziges Mal siezt, gehst du den gleichen Weg wie der Wisch, den du Empfehlungsschreiben nennst.«
Er sagte das ganz ruhig, ohne dass es wie eine Drohung wirkte, und ich glaubte zu wissen, dass er es nicht so meinte, ganz sicher war ich mir allerdings nicht.
Damit war unser erstes Zusammentreffen beendet. Ich stand wie zur Salzsäule erstarrt mitten in seinem Arbeitszimmer und war nicht imstande, mich vom Fleck zu rühren, bis er mir mit einer Handbewegung bedeutete, sein Bürozu verlassen. Ich taumelte rückwärts hinaus, wesentlich verwirrter, als ich bei meinem Eintreten gewesen war, und zog die Tür vorsichtig hinter mir zu. Wie in Trance stolperte ich den Korridor entlang, die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Noch nie in meinem Leben war ich so behandelt worden. Auf ein derartiges Benehmen eines akademisch gebildeten Menschen war ich nicht gefasst gewesen, eines Lehrers, dessen Aufgabe es war, junge Studenten, die einen weiten Weg über das Meer auf sich genommen hatten, zu unterweisen.
Ich irrte durch Kopenhagens Straßen, ohne zu wissen, wohin. Ich wusste nicht, ob ich immer noch unter der Ägide dieses Mannes studieren wollte, vor dem ich solche Hochachtung gehabt hatte! Ich hatte fast alle seine Publikationen über die mittelalterliche isländische Literatur gelesen und bewunderte seinen ausgefeilten Schreibstil und sein unglaublich großes Wissen. Ich hatte mich darauf gefreut, mich lauschend zu Füßen des Meisters niederzulassen. Seine Bücher und Artikel stellten seine überragende wissenschaftliche Befähigung unter Beweis, er war ein Beobachter von Gottes Gnaden und arbeitete zuverlässig, präzise und sorgfältig, und alles, was er schrieb, zeugte von großer Pietät den alten Handschriften gegenüber. Durch seine Forschungsarbeiten hatte ich so unendlich viel gelernt, und ich hatte darauf gehofft, dass sich sein Engagement und sein Feuer auf mich übertragen würden.
Abgesehen von Dr. Sigursveinn war er es, der letztlich den größten Anteil daran gehabt hatte, dass ich jetzt in Kopenhagen war. Aber der Mann, den ich hier traf, schien ein unbeherrschter, ungehobelter und arroganter Choleriker zu sein, der seine Studenten verachtete, geringschätzig über Dr. Sigursveinn redete und dessen Empfehlungsschreiben zum Fenster und anschließend fast auch mich aus seinem Büro hinauswarf!
Ich irrte grübelnd durch die Straßen Kopenhagens und endete schließlich auf dem Strøget. Nachdem der erste Schock überwunden war, versuchte ich, meine gegenwärtige Situation einzuschätzen. Menschen, Restaurants und Kneipen zogen an mir vorbei wie im Traum. Ich stand kurz davor, alles hinzuschmeißen und nach Island zurückzufahren. Möglicherweise hätte ich das auch in die Tat umgesetzt, wenn ich nicht trotz unserer minimalen Bekanntschaft gewusst hätte, dass es dem Professor vollständig egal war, ob er mich jemals wiedersehen würde oder nicht. Und genau deswegen beschloss ich, nicht das Handtuch zu werfen, sondern redete mir ein, dass es einfach ein
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