Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
Kirchenbesitz zu erkundigen, aber keiner von denen, mit denen er sich unterhielt, wusste etwas darüber. Das Tal war kurz nach der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verlassen worden. Ihm wurde gesagt, dass der letzte Bauer auf Hallsteinsstaðir eines Frühjahrs spurlos verschwunden war, vermutlich hatte er sich auf demWeg in die bewohnten Gebiete in einem Schneesturm verirrt und war umgekommen.
Man konnte immer noch erkennen, wo der alte Hof gestanden hatte. Das Dach war zwar bereits vor langer Zeit eingestürzt, aber die niedrigen, aus Steinen aufgeschichteten Wände standen noch. Sie waren mit Gras überwachsen. Das Gleiche galt für die alte Torfkirche, ihre Überreste waren unter hohem Gras verborgen. Ansonsten gab es nichts, was an früheres Leben erinnerte.
Der Professor schlug sein Zelt in der Nähe der Stelle auf, wo früher die Kirche gestanden hatte. Er musste an seine Gitte auf dem Totenbett denken, die Blut hustete und ihn mit ihren schönen Augen ansah. Sie hatte so lange gelitten, dass sie schließlich bereit gewesen war, den Tod zu akzeptieren.
Am nächsten Tag streunten ein paar Schafe an den Berghängen herum, und zu ihm ins Zelt drang der morgenklare Gesang isländischer Vögel. Er machte sich daran, den Friedhof zu untersuchen. Hier und da konnte man Erhebungen unter dem hohen Gras erkennen, mit viel Platz dazwischen. In alten Zeiten war eine kleine Mauer an der Seite längs der Kirche aufgeschichtet worden, von der noch einige Steine herumlagen. An dem einen Ende dieser Mauer im Südwesten konnte man die Umrisse einer Ecke erkennen. Er versuchte, sich die Ausmaße und die genaue Lage des Friedhofs vorzustellen, doch das war kein leichtes Unterfangen.
Der Professor hatte im Grunde genommen keine Ahnung, wonach er suchte. In seiner Trauer war er nach Island geflüchtet, doch sein Forscherdrang ließ ihm keine Ruhe wegen der alten Rósa, die auf der Rückseite eines Briefs des Bischofs von Uppsala an Árni Magnússon genannt wurde und dann wieder wie ein Spuk in einer Notiz des Büchersammlers Baldvin Thorsteinsson auftauchte. In der Volkszählungvon 1703 war Rósa Benediktsdóttir als wohnhaft in Hallsteinsstaðir aufgeführt und wurde als »frühere Dienstmagd von Ragnheiður Brynjólfsdóttir« bezeichnet. Laut den Eintragungen im Kirchenbuch der Hallsteinsstaðir-Gemeinde, das in der Nationalbibliothek in Reykjavík aufbewahrt wurde, erreichte sie ein hohes Alter. In den Annalen von Hraunsmúli wird im Zusammenhang mit ihrer Beerdigung eigens erwähnt, dass sie an der Seite ihres Sohnes begraben werden wollte, der dreißig Jahre vorher gestorben war und in der südwestlichen Ecke des Friedhofs seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.
Der Professor hätte zu gern gewusst, weshalb ein Däne wie Baldvin Thorsteinsson überhaupt etwas von der Existenz einer völlig unbekannten isländischen Frau aus dem Volke wusste und wieso er eigens ihre Grabstätte in dieser Notiz erwähnte und den Gedanken, sich zu ihr hinunterzugraben. Er hatte das sicher nicht ohne Grund getan, und der Professor war der Meinung, dass Baldvin vielleicht sogar die Absicht gehabt hatte, das Grab öffnen zu lassen. In der ganzen Welt gab es den Brauch, dass sich Menschen liebe und teure Dinge aus dem irdischen Leben mit ins Grab legen ließen, um sie mit in eine andere und bessere Welt hinüberzunehmen. Konnte es sein, dass im Grab dieser Rósa etwas gewesen war, wonach der Büchersammler Baldvin trachtete? Auf welche Weise hatte er davon erfahren? Stand die Randnotiz von Bischof Brynjólfur über die Lücke in Zusammenhang mit dieser Rósa? Diese Fragen hatten ihm bereits in Kopenhagen zugesetzt und noch mehr in Reykjavík, als der Professor sich daranmachte, den Lebenslauf von Rósa Benediktsdóttir zu rekonstruieren. In Hallsteinsstaðir angekommen, war er entschlossen, ihr Grab zu öffnen.
Als er mit einiger Sicherheit berechnet zu haben glaubte, wo Rósa unter der Grasnarbe in der Ecke des alten Friedhofsruhte, nahm er die Schaufel zur Hand, die er mitgebracht hatte, und begann zu graben. Er überstürzte nichts. Das Graben erwies sich als schwierig, denn der Boden war trocken und steinig, und er ermüdete rasch, da er nicht an körperliche Arbeit gewöhnt war, und außerdem war er durch das behinderte Bein beeinträchtigt. Er hatte Glück mit dem Wetter, die Sonne schien in diesen Tagen hoch am Himmel, und er konnte seinen Durst an einer Quelle löschen, die nicht weit von der Stelle entsprang, wo die alte Kirche
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