Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
Briefe über alte Bücher, Pergamenthandschriften und andere Dokumente eingesehen. Jörgensen war 1863 am Leben und reiste genau in dem Jahr nach Island, als der Bauer von Hallsteinsstaðir spurlos verschwand. Meiner Meinung nach hat er den Mann aus irgendwelchen Gründen umgebracht. Ich habe mir das Skelett angesehen, das über dem von der alten Rósa lag, und auch wenn ich kein Sachverständiger bin, war es ganz bestimmt wesentlich jünger als das darunter. Ich habe die Erde von den Knochen gekratzt und sie mir so genau wie möglich angesehen; es kam mir so vor, als wäre da in der dritten Rippe von oben eine tiefe Kerbe gewesen, wie von einem spitzen Gegenstand, vielleicht von einem Messer.«
»Der Bauer wurde also erstochen?«
»Sehr wahrscheinlich.«
»Und dann in das Grab zu der Alten geworfen?«
»Es hat ganz den Anschein«, sagte der Professor. »Das stimmt auch mit den Geschichten überein, die über den Bauern im Umlauf waren, der mitten im Winter verschwunden und nie gefunden worden war. Als ich zurück ins Dorf kam, stellte ich weitere Nachforschungen an. Dort gab es ein kleines, aber recht gutes Bezirksarchiv und einen sehr beschlagenen Direktor, der mir alles erzählte, was er über diesen Bauern wusste. Man nahm seinerzeit an, dass er sich mit seinem Hund auf den Weg ins Tal gemachthatte, möglicherweise wollte er zu seinem Neffen, und dann muss er sich wohl in einem schlimmen Schneesturm verirrt haben und erfroren sein. Man hat nach ihm gesucht, und die Schaftreiber hielten jeden Herbst Ausschau nach seinen Gebeinen, fanden sie aber nie. Dieser Jörgensen hat den Bauern vielleicht im Haus getötet, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Laut den Aussagen derer, die nach dem Bauern suchten, war dort alles ordentlich und aufgeräumt. Ich glaube, dass Ronald D. Jörgensen den Mann beim Grab umgebracht hat, um sich die Mühe zu ersparen, die Leiche dorthin schaffen zu müssen. Wahrscheinlich kurz nachdem er gefunden hatte, was er suchte. Ob der Bauer erstochen, erwürgt oder erschlagen worden ist, spielt letzten Endes keine Rolle, genauso wenig, ob es im Haus oder draußen geschah. Er verschwand um dieselbe Zeit vom Erdboden, als Ronald D. Jörgensen mit der Acturus nach Island reiste und glaubte, den Ort gefunden zu haben, wo Rósa Benediktsdóttir auf Hallsteinsstaðir begraben worden war.«
»Aber warum musste er den Bauern umbringen?«, fragte ich.
»Das mag Gott wissen«, antwortete der Professor und starrte durch die Fensterscheibe des Busses. »Jörgensen wird sich dazu gezwungen gesehen haben, ihn zum Schweigen zu bringen. Vielleicht hat der Bauer etwas Unvorsichtiges gesagt.«
»Hast du irgendetwas in dem Grab gefunden?«
»Nein«, sagte der Professor. »Nichts.«
»Und dieser Jörgensen hat tatsächlich die verschollenen Seiten aus dem Codex Regius gefunden? Hat er deswegen das Grab geöffnet? Musste er deshalb den Bauern zum Schweigen bringen?«
Der Professor sah durch sein Spiegelbild in der Scheibe hindurch. »Ja, ich glaube, es waren die verschollenen Seiten«,sagte er. »Ich glaube, dass die alte Rósa sie mit ins Grab genommen hat. Vermutlich hat sie sie entwendet, während sie in Skálholt war.«
»Die Lücke bei Rósa«, sagte ich und dachte an den Brief im Schreibtisch von Jón Sigurðsson. »Brynjólfur hat diese Rósa gemeint.«
»Ja, die Lücke bei ›R‹«, sagte der Professor. »Dieses ›R‹ hat nichts mit den beiden Ragnheiðurs zu tun, weder mit Brynjólfsdóttir noch mit Torfadóttir, wie ich früher einmal geglaubt habe, sondern es geht um die alte Rósa Benediktsdóttir. Möglicherweise stammt ihr Kind auch von diesem Schürzenjäger Daði Halldórsson. Durchaus denkbar, dass sich die beiden in Skálholt gemeinsam mit schwarzer Magie und Zauberei befasst haben, und dabei waren ihnen diese Pergamentseiten von Nutzen. Zu Zeiten von Bischof Brynjólfur war Hokuspokus dieser Art ja die reinste Landplage. Ich glaube, dass diese Lücke in Skálholt entstanden ist und dass die Seiten, die herausgenommen wurden, mit Rósa ins Grab gingen.«
»Und Jörgensen hat sie ausgegraben?«
»Ja.«
Der Professor wandte seine Augen vom Fenster ab und sah mich wieder an. Dann erzählte er weiter von den beiden Skeletten in dem Tal, das schon vor langer Zeit verlassen worden war.
Er brauchte bis zum späten Abend, um die Knochen vorsichtig freizulegen, bis er ganz genau sah, wie sie ins Grab gelegt worden waren. Der armselige Sarg von Rósa war völlig zerfallen, nur hier und
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