Colin Cotterill
verhältnismäßig hel e Samsenthai Road. Aber selbst hier verwandelte der gelbliche Schein der Straßenlaternen jeden Hauseingang in eine finstere Höhle, in der das Böse lauern konnte. Er beobachtete die Leute, die ihm entgegenkamen, aus den Augenwinkeln. Wenn sie an ihm vorbei waren, spitzte er die Ohren und lauschte, ob ihre Schritte kehrtmachten und ihn verfolgten.
Da er heute aus der entgegengesetzten Richtung kam, musste er die Tempelanlage durchqueren, um nach Hause zu gelangen. Die Mönche saßen in ihren Zel en und erledigten bei Kerzenlicht die letzten Arbeiten des Tages.
Er stel te sich in den Schatten eines kleinen Champabaumes und sah zu seinem Fenster hinauf. Schwarz gähnte es ihn an. Nichts regte sich. Oder doch? Nein, nur der Vorhang bauschte sich leise im sanften Wind.
Er hatte den Mann nicht kommen hören.
»Stimmt was nicht, Bruder?«
Siri erschrak fast zu Tode. Der Mönch hatte sich lautlos von hinten angeschlichen, mit dem Rechen im Anschlag, um sich notfal s verteidigen zu können. Siri atmete tief durch und lächelte über seine eigene Dummheit.
»Nein. Ich genieße nur die Ruhe. Das da oben ist mein Zimmer.«
»Dann wil ich nicht weiter stören.«
»Gute Nacht.« Er ging davon.
»Gute Nacht, Yeh Ming.«
Siri drehte sich um, aber der Mönch hatte bereits den Rückweg durch den Garten angetreten.
Mit seinem museumsreifen Werkzeug brauchte Siri eine halbe Stunde, um die Haspen anzubringen. Das kleine Mädchen aus dem Parterre kam herauf, um ihm zuzusehen und die Schlafenszeit hinauszuzögern. Sie war sechs und im besten Sinne des Wortes frühreif.
»Aber warum?«
Da er sie nicht mit Geschichten von Räubern und Einbrechern ängstigen wol te, verlegte er sich auf eine jener waghalsigen Lügen, die einen früher oder später teuer zu stehen kommen.
»Weil ich so schön bin.« Er erklärte ihr, er müsse die Tür verriegeln, um sich vor den vielen heiratswil igen Frauen zu schützen, die ihn Tag und Nacht bedrängten.
»Stimmt ja gar nicht. Du bist alt.«
»Nun ja. Für eine Sechsjährige sehe ich viel eicht alt aus; aber ältere Damen ab zehn finden mich unwiderstehlich.«
»Manoly?« Die Mutter hatte ihr Fehlen bemerkt.
»Psst. Nicht verraten.«
»Sie ist hier oben, Frau Som.«
»Och, Mann, du bist gemein. Dich würde ich ganz bestimmt nicht heiraten.«
Nachdem er sich in seinem Zimmer eingeschlossen und den Schreibtisch vom Fenster weg und vor die Wand gerückt hatte, fühlte er sich einigermaßen sicher. Nicht hundertprozentig, aber immerhin. Er wusch sich am Ausguss Hände und Gesicht und wol te eben Kaffee kochen, als er im Regal ein frisches, noch ungeöffnetes Paket Bohnen bemerkte. Das Vorhängeschloss kam keinen Augenblick zu früh. Fräulein Vong machte sich langsam, aber sicher in seiner Wohnung breit.
Er zog die Vietnam-Akte aus ihrem provisorischen Versteck unter den Bodendielen und setzte sich damit an den Schreibtisch. Obwohl er Nguyen Hongs Schrift gut lesen konnte, musste er ein paar Dutzend Mal sein Vietnamesisch-Wörterbuch bemühen. In dem Bericht stand eigentlich nichts Neues. Wie schon der erste Tran wies auch Hoks Leiche Strommarken an Brustwarzen und Genitalien auf.
Doch mit seinen persönlichen Notizen am Ende des Berichts warf der Vietnamese al es über den sprichwörtlichen Haufen.
»Nach meinem Dafürhalten war die Stromstärke für Folterzwecke eindeutig zu hoch. Die Männer hätten vermutlich das Bewusstsein verloren, bevor sie irgendwelche Geheimnisse ausplaudern konnten, und das scheint mir denn doch eher kontraproduktiv. Sie hätten sogar sterben können. Das gilt auch für die beiden anderen.
Bei zwei Opfern, nämlich unserem Tran und Hok, war kaum positive vitale Reaktion feststel bar, was den verblüffenden Schluss nahelegt, dass die Wunden postmortal gesetzt wurden. Aber das sind bislang selbstverständlich bloße Spekulationen meinerseits.«
»Postmortal?« Siri leerte seinen Kaffee und braute sich einen neuen. Er wusste, dass mit »vitale Reaktion« die Hautrötung in der Umgebung der Brandwunden gemeint war, die eintritt, wenn der Körper sich daranmacht, den entstandenen Schaden zu beheben. Wenn sie nicht vorhanden ist, hat der Körper seine Aufgabe nicht mehr erfül en können. »Postmortal, so so. Damit wäre die Annahme, dass die Vietnamesen von den Laoten gefoltert wurden, vom Tisch, sprich irgendjemand wol te es so aussehen lassen, als ob wir sie gefoltert hätten. Und wenn wir das beweisen könnten, wäre seine ganze
Weitere Kostenlose Bücher