Colin Cotterill
sandte einen Lichtstrahl durchs Fenster. Im selben Augenblick hörte Siri links neben sich einen zarten Seufzer, wie der Atem eines winzigen Tieres. Er wandte verwundert den Kopf und blickte zu seinem Erstaunen in das Gesicht der schlafenden Mai.
Er wich zurück, so weit das Netz es zuließ, und hielt die Luft an. Sie lag leise atmend da und schlief, mit einem Lächeln auf ihrem jungen, ebenmäßigen Gesicht. Ihr makel oser nackter Körper räkelte sich neben ihm auf der Matratze. Bevor das Mondlicht wieder verschwand, bemerkte er die tiefen Schnitte an ihren Unterarmen, das geronnene, rot schimmernde Blut.
Dann wurde es wieder dunkel. Er konzentrierte sich auf ihren Atem. Zu wissen, dass sie da war, ohne sie sehen zu können, erschien ihm noch erotischer. Er wusste, wie unpassend seine Gefühle waren, und fragte sich, ob dies die Strafe für seine unmoralischen Gedanken von heute Mittag war.
Er wusste nicht, was tun. Sol te er sie wecken? Warum lag sie hier und schlief? Wenn sie zu ihm gekommen war, hatte sie ihm doch bestimmt etwas zu sagen. Warum also sagte sie es nicht? Viel eicht war sie müde von der Reise. Und so lag er schaudernd vor Erregung da, während sie friedlich schlief.
Viel eicht war das die Botschaft. Viel eicht wol te sie ihm mitteilen, dass sie nun endlich in Frieden ruhen konnte. Wol te sie sich am Ende bei ihm dafür bedanken, dass… ?
Es klopfte an der Tür, ein zaghaftes Pochen, wie um die Nachbarn nicht zu wecken. Siri schrak zusammen wie ein untreuer Ehemann, den man auf frischer Tat ertappt hat, in den Armen seiner nackten Geliebten, seiner nackten, toten Geliebten. Er verfluchte den nächtlichen Besucher. Alberne Gedanken gingen ihm im Halbschlaf durch den Kopf, während er nach einer Antwort suchte: Wo sol te er sie verstecken? Wie ihre Anwesenheit erklären?
Dann rief eine heisere Männerstimme im Flüsterton: »Mai, Mai, ich bin’s.«
Verdammt. Das gehörte al es mit dazu. Menschen mit übersinnlicher Wahrnehmung, überlegte er, brauchten sich um mangelnde Unterhaltung wahrlich nicht zu sorgen. Das Mädchen bewegte sich neben ihm, und ihr Parfüm stieg ihm in die Nase. Dann hörte er ihre schlaftrunkene Stimme.
»Ich schlafe. Wie spät ist es?«
»Drei. Ich bin eben zurückgekommen.«
Wieder seufzte sie, diesmal vor Wonne. »Geh weg.«
Siri lehnte sich gebannt zurück, als lausche er einem Hörspiel im Radio.
»Jetzt stel dich nicht so an. Ich hab dir auch was mitgebracht.«
Siri hörte, wie sie das Netz zurückschlug und barfuß zur Tür tappte. »Hat es vier Räder?«, fragte sie kichernd.
»Besser. Komm, sei lieb. Lass mich rein. Du hast mir so gefehlt.«
»Was gibt es Besseres als ein Auto?«
»Hattest du mich nicht gebeten, dir aus Vieng Xai etwas mitzubringen?«
Sie stieß einen Freudenschrei aus. »Rubine? Das ist nicht dein Ernst! Du hast mir Rubine mitgebracht?«
Hastig wurde ein Riegel zurückgeschoben. Als die Tür aufging, stand sie nackt und herrlich ungeniert in mattes Licht getaucht. Ihr Verehrer blieb draußen stehen. Wieder kicherte sie und streckte den Arm nach ihm aus. Da schloss sich die kräftige Linke eines Mannes um ihr Handgelenk und zerrte sie nach draußen. Die Tür schloss sich hinter ihr, und die Dunkelheit kehrte zurück.
Zitternd und keuchend rappelte sich Siri hoch und eilte zur Tür. Gedämpfte Würgelaute drangen durch das Holz. Er drückte die Klinke herunter, aber die Tür wol te nicht aufgehen. Sie war mit einem großen Vorhängeschloss aus Stahl gesichert.
Um sechs wachte Siri völ ig durcheinander auf. Er lag eine Weile stil , bis ein klebriges Gefühl im Schritt ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht ins Gedächtnis rief. Leicht beschämt ging er ins Bad hinunter und übergoss sich mit kaltem Wasser. So etwas war ihm seit sechsundfünfzig Jahren nicht passiert, und es war ihm heute noch genauso peinlich wie damals.
16
TOD DURCH GESCHLECHTSVERKEHR
»Guten Morgen, Siri.« Professor Mon war nicht nur der Direktor des Lycee Vientiane, sondern auch Lehrerin Oums Vater. Er stand etwas verloren im Vorraum herum. Da er den Sektionsaal nicht betreten mochte, kam Siri ihm entgegen.
»Mon, wie geht es Ihnen?« Sie gaben sich die Hand.
»Im Großen und Ganzen gut. Ich habe hier einen an Sie und Oum adressierten Brief.« Er reichte Siri einen grauen Umschlag. Die Briefmarke stammte aus der UdSSR. »Ich glaube, es geht um die Chemikalien, um die Sie gebeten hatten.«
»Er ist ungeöffnet.«
»Wer hätte ihn auch öffnen sol
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