Collector’s Pack
die Marina nicht lesen konnte. »Ich bin Asaaf, ich bringe Sie nach Jerusalem. Sie werden erwartet.«
Der Mann legte ihr eine Hand auf den Rücken und schob sie sanft, aber nachdrücklich in Richtung Ausgang. Er hatte es offenbar eilig und sah sich immer wieder sichernd um, als fürchte er jeden Moment einen Anschlag.
Als Marina draußen die staubige, heiße Nachmittagsluft einatmete, wurde ihr vollends bewusst, dass sie kaum eine Chance hatte. Der große Plan hatte von Anfang an einen kleinen Fehler im Gewebe gehabt, der sich durch die Jahrtausende hindurch vervielfachte und das komplizierte Gespinst immer mehr schwächte. Wie ein feiner Riss in einem ansonsten perfekten Kunstwerk aus Glas, der sich unaufhaltsam verästelte und vorschob. Marina konnte spüren, dass das ganze Gebilde bald zerreißen und zerplatzen würde. Marina erschauderte kurz und zwang sich, an Nikolas zu denken. Sobald sie an ihn und seine ruhige Stimme dachte, die ihre Angst wie ein ewig murmelnder Strom forttrug, wurde sie wieder ruhig. Allein der Gedanke an Nikolas ließ sie weiteratmen.
Asaaf führte sie zu einem Audi, der vor dem Terminal parkte, und bugsierte sie auf den Rücksitz. Er selbst setzte sich nach vorne zum Fahrer und wechselte danach kein weiteres Wort mehr mit ihr. Nur hin und wieder warf er ihr einen Blick durch den Rückspiegel zu, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Marina war ohnehin nicht nach Konversation zumute. Seit sie im Kloster Tengboche erwacht war, dachte sie nur an Nikolas. Er war tot, und dennoch war er bei ihr gewesen, hatte sie zurück ins Leben gerufen. Was hatte er alles gesagt?
Sie fuhren sehr schnell, der Fahrer hielt nicht einmal am Checkpoint zum Westjordanland. Marina sah, dass die jungen, schwer bewaffneten Soldaten sogar kurz grüßten. Die Fahrt endete schließlich in der King George Street im Zentrum von Jerusalem vor dem wuchtigen, festungsartigen Neubau der Großen Synagoge. Asaaf führte sie in einen kleinen Innenhof mit Orangenbäumen und einem Springbrunnen.
»Für uns Wüstenvölker gibt es keinen süßeren Klang als den fließenden Wassers«, begrüßte sie der bärtige Rabbiner, der mit einer Hand gerade versonnen im Wasser spielte wie ein kleiner Junge. »Wasser ist Leben«, sagte er und trocknete sich die Hände ohne Umstände an seinem Jackett ab. »Es möge nie versiegen.« Er reichte ihr die kühle Hand. »Chaim Kaplan. Willkommen in Jerusalem, Miss Bihari.«
Der Rabbiner musterte sie kurz und bat sie dann in einen Korbsessel in der Nähe des Brunnens. Asaaf hielt sich im Hintergrund.
»Ich würde Ihnen gerne anbieten, sich noch ein wenig auszuruhen nach dem anstrengenden Flug«, begann Kaplan ohne Umschweife. »Aber dazu haben wir leider keine Zeit.«
»Es geht mir gut«, log Marina. »Wo ist Scheich Al Husseini jetzt?«
»Nach unseren Informationen hat er vor einer halben Stunde den Tempelberg betreten. Er reist zwar inkognito, aber das ist für jemanden in seiner Position nicht einfach. Daher hat er noch einen Termin mit dem Imam der Al-Aqsa-Moschee zu absolvieren.« Er wandte den Kopf leicht in Asaafs Richtung. »Die zuständigen Regierungsstellen überwachen jeden seiner Schritte. Sobald er den Tempelberg verlassen hat, können sie ihn jederzeit … ausschalten.«
»Ich hoffe, das wird nicht nötig sein«, sagte Marina.
Kaplan musterte sie erneut. »Woher wissen Sie so genau, was Sie tun müssen?«
»Man hat es mir im Traum gesagt.«
Der Rabbiner sah sie einen Moment zweifelnd an. »Haben Sie gar keine Angst?«
Marina dachte an die Geschichten ihrer Großmutter über Sara-la-Kâli, die mit der Heiligen Muttergottes aus Judäa geflohen und als Marias Dienerin in Europa gelandet war. Schaurige Geschichten von Armut, Unterdrückung, Rastlosigkeit und Opfern, die Marina als kleines Mädchen bis in ihre Träume verfolgt hatten. Erst in den letzten Wochen war Marina klar geworden, dass Ioona sie damit auf die Aufgabe ihres Lebens vorbereitet hatte: Das Erbe von Sara-la-Kâli anzutreten. Das Amulett zu hüten. Zu dienen. Das war ihre Bestimmung als Roma und als Ioonas Enkelin: das Opfer für Maria. Die Liebe zu Nikolas war nur eine letzte Prüfung gewesen, ein kurzer Moment schmerzvoller Gnade. Angst? Ja, furchtbare Angst. Marina wurde schon bei dem Gedanken daran übel, was ihr bevorstand. Aber sie wusste auch, dass es Hoffnung gab. Nikolas hatte ihr alles genau erklärt.
»Nein«, antwortete sie dem Rabbiner daher. »Nicht mehr.«
»Darf ich fragen,
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