Absonderlichkeiten. Ich hörte zu. Wenn sie den Tisch für
einen Augenblick verließ, wurde ich unruhig, beobachtete die Umgebung und
musste mir eingestehen, dass ich fürchtete, sie würde sich, meiner überdrüssig,
still und leise davonstehlen.
Nach drei Tagen gab sie ihr Appartement auf und
zog kurzerhand, als wäre sie nur verspätet angereist, in mein Farmhaus ein. Wir
waren im wahrsten Sinne des Wortes aufeinander zu getrieben. Nach zwei Tagen
hatte ich mich an sie gewöhnt und begann innerlich den drohenden Count-down zu
verfluchen, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren.
Lily hatte sich verändert. Sie arbeitete immer
noch in dem, was sie ihren Beruf nannte, aber schon lange nicht mehr auf der
Straße. Sie hatte studiert, ein wenig Kunst, ein wenig Betriebswirtschaft für
später und nach fünf Semestern aufgegeben. Jetzt also vier Wochen Sommerurlaub,
ein ganz normales Leben mit Rentenfonds und Girokonto.
Irgendwann meinte sie, ich hätte sie damals vor
der Straße gerettet. Wir sprachen nie wieder darüber.
„Vier Jahre ist das jetzt her.“
„Und wo hat sie sonst gewohnt?“
„Ich weiß es nicht – ich weiß nur, dass Lily
ihr richtiger Name ist. Aber ihr Familienname, Fehlanzeige. Es spielte keine
Rolle. Sie kam und ging. Manchmal sah ich sie vier Wochen nicht, dann blieb sie
zwei, drei Tage und verschwand wieder. Unvorstellbar, ich weiß. Keine Telefonnummer,
nichts. So war das.“
Mader schüttelte den Kopf.
„Kaputt“, sagte sie, „total kaputt. Wie kann
man so leben?“
„Zuerst wollte ich sie nicht ausfragen, keine
Forderungen stellen, und dann war es irgendwann egal. Alles war so normal. Wenn
sie da war, haben wir gekocht, ferngesehen, sind joggen gegangen, haben uns
morgens beim Zeitunglesen angeschwiegen. Wie ein normales Paar. Alles, was ich
wissen müsse, würde sie mir erzählen. Das war ihre Antwort, wenn ich mal fragte.
Und, sie sah sofort, wie es mir ging. Ich musste nichts erklären, keine
Rechtfertigungen. Ich war, ich war glücklich. Und sie vielleicht auch.“
Sie hatte mir plötzlich wieder Halt gegeben,
mich aus dem ziellosen Dahingeworfenwerden errettet. Vielleicht ging es ihr
genauso. Lily hatte zuviel hinter sich, um noch den Schein wahren zu wollen und
wir waren uns unserer Abgründe bewusst, ohne je darüber sprechen zu müssen.
Mader griff nach einer neuen Zigarette. Inzwischen
rauchte sie ruhiger, nestelte nicht mehr nervös herum.
„Den Glaubwürdigkeitswettbewerb gewinnst Du
damit nicht.“
Ich nickte nur hilflos. Was half es, wenn ich
wusste, welche Bücher sie gelesen hatte, welche Maler sie mochte, welche Musik.
„Du hast also hier gesessen und gewartet, bis
sie sich meldet. Keine Briefe?“
„E-Mail, aber das hilft uns auch nicht weiter.
[email protected].“
Mader schüttelte verständnislos den Kopf.
„Gut. Dann lass uns einen Plan machen. Jetzt
wissen wir zumindest beide, woran wir sind.“
„Warum bist Du zu Ferdinand gegangen?“
„Ich hab ihm vertraut.“
„Mir nicht?“
„Wie denn? Hast Du mir vertraut!“
Wir waren quitt.
„Da ist noch etwas.“
Ich erzählte Mader, wie Lily vor zwei Wochen zu
mir gekommen war und wieder verschwand. Inzwischen war es drei Uhr morgens, die
Nachtigallen krakeelten über den Grabsteinen. Ich ging ins Zimmer und zog die
Schlafcouch aus. Mader sah mich fragend an.
„Frühstück um acht.“
Sie zog meinen Kopf mit beiden Händen zu sich
herunter und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Ihr Haar duftete nach
Zitronen.
30
Dienstag.
Kurz nach sechs klingelte das Telefon.
„Martens. Wir haben eine Frau, enthauptet. Der
kleine Park am Karlsbad.“
„Enthauptet?“
„Fast. Der Kopf hängt grad noch so am Hals.“
„Halbe Stunde, bis dann.“
Ich weckte Mader und sprang unter die Dusche.
Wir nahmen ihren Golf und sie ließ mich eine
Ecke vorher aussteigen.
Martens wanderte vom einen Ende der Absperrung zum
anderen. Gut so, dachte ich. Er hatte Bereitschaft, wurde also als Erster zum
Tatort gerufen. Zum Glück stand er nur rum und wartete auf uns. Das Team der
Spurensicherung schippte dunkelrot gefärbtes Laub in einen Plastiksack.
„Der Rasenmäher vom Grünflächenamt hat sie
gefunden. Fußabdrücke oder so kannst Du vergessen. Der Boden ist staubtrocken. Hat
wohl zu weit weg gestanden, der Täter. Ein paar Zentimeter näher und er hätte
ihr den Kopf abgetrennt. Schätze, sie war beim Pinkeln.“
Der Mann mit dem schütteren Haar, der mich so
unverblümt duzte, kam mir zwar