Coltan
über
Vernissagen und Ausstellungen in halb Europa. Sie zeigte mir eine Welt jenseits
der genormten Aktendeckel und des alltäglichen Elends. Auf meinem Fernseher
bildete sich eine Staubschicht ich hatte nur selten einen Kater. Den Karton mit
den Freitagspornos hatte ich unterm Bett verstaut, Lily rührte ihn nicht an und
putzte gut sichtbar um ihn herum.
Poes Gruselkabinett, Kafkas tiefe Verzweifelung,
der kotzende Benn mit seiner unerfüllbaren Sehnsucht, die ihn unstet durch die
Zeiten treiben ließ. Für Lily waren sie ungestellte Frage und lang gesuchte Antwort
zugleich. Sie waren sich nah, all die verpfuschten Existenzen jenseits
tariflich geregelter Arbeitszeiten, denen eine geheime Sehnsucht innewohnte,
eine Sehnsucht nach Beständigkeit, der sie zugleich zu entfliehen suchten. Für sie
war Scheitern der wirkliche Beweis, gelebt zu haben, alle anderen warteten nur
auf den Tod.
Zugegeben, es gab Tage, da wünschte ich mich in
die beschauliche, überschaubare Existenz meiner Zelle zurück, klar strukturiert
mit Reißleine und doppeltem Boden.
Mit Lily begann jeder Morgen mit einer
intensiven Zeitungslektüre, deren ungekrönter Höhepunkt in der Kritik der Kunstkritik
bestand. Kritiker brachten ihr Blut in Wallung und sie drosch fröhlich auf die
Phrasen produzierenden Häppchenritter ein.
„Alles Mögliche wird verfolgt: Wer nackt auf
der Straße läuft, kommt wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses vor den Kadi.
Wer Blödsinn schreibt, kommt ungehindert davon. Das müsste doch viel eher unter
Erregung öffentlichen Ärgernisses fallen! Und außerdem krieg ich Kopfschmerzen
von diesem Mist!“
Ich zuckte hilflos mit den Schultern: „Der
Staat muss sparen, und wer will schon das halbe Land hinter Gitter bringen.“
Die Nachrichten zeigten Rauchsäulen über
Beirut, zerfetzte Körper in Israel. Vielleicht wäre es hilfreich, die
Vergangenheit endlich zu begraben, vergessen zu können, um dem Wahnsinn ein
Ende zu machen. Etwas Wüste, karges Land und auf beiden Seiten Menschen, die
ihren kleinen Traum von Frieden, Wohlstand und Sicherheit leben wollen, bis die
Fanatiker, die nichts vergessen und ewig in der Vergangenheit leben, wieder und
wieder – ich schaltete den Fernseher aus.
Auf meinem Schreibtisch lagen einige Zettel,
darunter die Nummer der Limited. Ein Anruf kann nichts schaden.
Ich tippte die Zahlen, ein fernes Freizeichen
erklang, zehn, fünfzehn, zwanzig Sekunden. Ich legte auf. Fehlanzeige.
Und wenn irgendwann eine Mailbox rangeht? Zweiter
Versuch, Wahlwiederholung. 15, 20, 25 Sekunden.
Dann, ein kurzes Knacken: „Hallo, sorry I am
not available at the moment, please leave a message after the beep.”
Ich legte auf und spürte einen stechenden
Schmerz hinter den Schläfen.
Nein, ein Irrtum, eine Verwechselung. Das konnte
nicht sein. Völlig ausgeschlossen.
Ich drückte die Wahlwiederholung, wartete auf
das Knacken: „Hallo, sorry I am not available at the moment, please leave a
message after the beep.”
Gallert, du hast sie nicht mehr alle! Die
Hitze, du schaffst das nicht. Lass Mader weitermachen und ruh dich aus. Als Nächstes
wirst Du allen dunkelhaarigen Frauen mit kurzem Haar hinterher rennen, sie an
der Schulter packen, um kurz darauf „Verzeihung“ zu murmeln.
Sie ist tot, kommt nie mehr zurück und hat dir
auch nichts hinterlassen. Nicht mal die Anschrift der Finca, die sie kaufen
wollte, wenn alles vorbei sein würde.
Ich ging unter die Dusche, um wieder zu mir zu
kommen, doch mein Puls raste weiter.
Wahlwiederholung die Dritte. Es war Lilys
Stimme, kein Zweifel: „… please leave a message after the beep.”
Irgendwo lag ihr Handy herum und versah seinen
Dienst.
Andernfalls wäre die Mailbox sofort
angesprungen. Vielleicht war auch nur eine Rufumleitung, die mich narrte, weil
ich hoffte, etwas zu finden.
34
Mittwoch.
Mader traktierte frisch und ausgeschlafen die
Tastatur ihres PCs.
„Nichts Weltbewegendes. Sie ist gegen
Mitternacht losgegangen, zu Fuß, die Kurfürstenstraße runter. Das ist alles. War
allerdings davor ein paar Tage nicht da, so ein, zwei Wochen meinten die, die
sich überhaupt noch an was erinnern können.“
Ich nickte und schwieg, blätterte ziellos meine
Papierstapel durch und verschwand dann mit dem Wasserbehälter der
Kaffeemaschine.
Als ich zurückkam, lag ein neues Blatt auf meinem
Schreibtisch. Maders Bericht in der Hand schaufelte ich Kaffeepulver in den
Filter. Meine Kopfhaut juckte.
„Waschen!“ tönte es durch den
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