Commissaire-Llob 1 - Morituri
Muskeln am Eingang des Limbes
Rouges: Nun, genau das ist Didi.
* * *
Das Neonschild vom Limbes Rouges zerschneidet
die Straße in blutrote Streifen. Hin und wieder wird
die Eingangstür von einem Schwall Musik beiseite
geschoben, den der Wind alsbald wieder ver-
schluckt. Der Nieselregen legt sich klagend auf die
heiteren Nächte von einst, während die Bäume sich
in clownesker Hysterie die Haare raufen.
Verschwunden sind die Cliquen, deren Lachen
bis zu den Sternen schallte, die schlaflosen Straßen
und die Betrunkenen, die ihre eigenen Halluzinati-
onen beschimpften.
Die Rue des Lauriers-Roses gleicht einem von
Gott und den Menschen verlassenen See, in dem
der Nachtclub wie eine verwunschene Insel herum-
spukt.
Noch vor wenigen Monaten haben Kioske die
Esplanade bis hin zum Marktplatz gesäumt. Nacht-
schwärmer sind friedlich umherflaniert und haben
die Lichter im Hafen gezählt. Die einen haben ein-
ander Schwänke aus ihrem Leben erzählt, die ande-
ren überschwenglich vom Schlaraffenland ge-
träumt. Es war nicht wirklich das Paradies, aber
weniger traurig als die Hölle, die danach kam.
Heute abend tritt sie auf der Stelle, die Rue des
Lauriers-Roses. Ihre Gebäude stehen da wie be-
stellt und nicht abgeholt. Weit und breit kein
Schaschlik-Verkäufer in Sicht und kein Gigolo auf
der Jagd nach einem vergoldeten Seitensprung. Die
Leute verkriechen sich zu Hause und halten den
Atem an. Eine Schüssel, die beim Nachbarn hinun-
terfällt, versetzt gleich das ganze Viertel in Alarm.
Zwischen zwei Polizeikontrollen braust von Zeit
zu Zeit ein Geisterauto über die regennasse Straße
und hält vorm Night-Club an. Dann schließt sich
die Tür des Etablissements wieder und überläßt die
Welt dem leisen Gejammer des Regens und dem
frenetischen Tanz der Bäume.
Wir haben an der Ecke unter einer Laterne mit
zerschlagener Lampe geparkt. Wir qualmen verd-
rossen eine Zigarette nach der anderen. Die Schei-
ben sind beschlagen und Lino ist beleidigt, weil
sich die Zeiger seiner Uhr noch immer im Kreise
drehen. Es ist eine Strafe für ihn, in einer stinken-
den Karre auf einem vermoderten Sitz zu hocken
und darauf zu hoffen, daß das Vögelchen ausfliegt.
Er verübelt mir, daß ich ihn zu nächtlicher Stunde
herausgeholt habe, und fühlt sich grund- und gna-
denlos ausgenutzt.
Er regt sich ganz umsonst auf. Wenn ich mir
einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, würde sich
jeder Nagelheber daran die Zähne ausbeißen.
Das Vögelchen kommt gegen ein Uhr heraus. Ein
Mädchen von etwa zwanzig Jahren, schön wie ein
Lächeln mit Rehaugen und gertenschlank. Den
Bauchtanz beherrscht sie sicher besser als eine
Kobra.
Wir warten, bis sie sich in ihrem Renault zu-
sammengerollt hat und in Richtung Hafen wegge-
fahren ist. Nach einer Polizeisperre durchqueren
wir eine Vorstadt, die wie ein indischer Friedhof
aussieht, umrunden einen Teil von Bab-el-Oued,
wo die einfachen Leute bumsen, um sich warmzu-
halten, und erklimmen die Serpentinen zu den An-
höhen der Stadt. Ohne Vorwarnung verschwinden
die Elendsviertel, und wir finden uns in einem
kleinen Garten Eden mit stattlichen Villen,
Schweizer Chalets und hängenden Gärten wieder.
Lino, der in der Nähe eines Müllplatzes aufge-
wachsen ist, traut seinen Augen nicht. Er sieht sich
staunend um und verrenkt sich fast den Hals, so ist
er vom Glanz dieser Residenzen geblendet, die
zwei Steinwürfe vom Elend der Slums entfernt
schamlos ihre Pracht entfalten.
„Donnerwetter! Schau dir diese Festungen an,
Kommy. Ich hoffe, du hast uns ein Visum besorgt.
Wo sind wir hier eigentlich? Ich glaube, du hast ein
wenig zu fest auf die Tube gedrückt. Wir haben
bestimmt die Schallmauer durchbrochen!“
Ich gebe keine Antwort. Ich versuche, mich auf
den Renault zu konzentrieren, um nicht aufsehen
zu müssen.
Lino staunt buchstäblich Bauklötze. Der Arme!
Er hat noch immer nicht begriffen, daß in seinem
geliebten Land jeder versucht, seinen Nachkom-
men einen Palast zu errichten, und niemand daran
denkt, ihnen eine Heimat zu geben.
Der Renault vor uns fährt auf den Gehsteig, glei-
tet in eine Garage und schaltet die Lichter aus.
Ich wende mich zu Lino: „Jetzt wissen wir, wo
Didis Freundin wohnt, und du bekommst den Auf-
trag, das Haus rund um die Uhr zu überwachen.“
Die Bauklötze fallen zusammen, sein Mund
bleibt offen.
Ich tröste ihn: „Ist mal was anderes als deine
Bruchbude.“
* *
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