Commissaire-Llob 1 - Morituri
*
Eine Woche lang hat Lino in der Umgebung der
Tänzerin herumgeschnüffelt, ohne auch nur den
Schatten von Didi auszumachen. In der Zwischen-
zeit hat er einen Dealer wiedererkannt, den die
Kleine zweimal empfangen hat. Das erstemal am
Tag nach dem Mord an Aït Méziane, das zweite
Mal in einem Mercedes, den ein Albino gefahren
hat.
Über eine Kette von Umwegen ist es uns gelun-
gen, den Schlupfwinkel des Dealers ausfindig zu
machen. Ich beschließe, ihm mit Lino, Chater und
Serdj einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Chater
und Serdj sollen in einem Café gegenüber einer
Sackgasse abwarten und uns den Rücken decken.
Lino und ich klettern über eine Mauer, um in den
Hof eines leerstehenden Lagerhauses zu gelangen.
Einige Kinder stehen aufrecht auf ein paar Fäs-
sern und pinkeln um die Wette. In einer Ecke ros-
ten unter Schichten von Exkrementen und Staub
die Überreste eines Traktors vor sich hin. Wir
dringen in die Halle ein. Fast wäre Lino über eine
Stufe gestolpert.
„He, du stehst auf meiner Hand!“ stöhnt ein Pen-
ner unter einem Haufen von Stoffetzen.
Wir entschuldigen uns und gehen in Richtung ei-
ner feuchten Rumpelkammer weiter. Durch eine
kleine Tür, die sich unter einer Metallstiege duckt,
gelangen wir in einen Gang, der so eng ist, daß wir
hintereinander gehen müssen. Unter uns brütet ein
Elendsloch über seinem Unglück. Zwei Kleinkin-
der spielen unter dem abwesenden Blick eines
Greises mit einer Gasflasche. Eine Luke führt uns
zu einer Art Treppenabsatz, wie ich ihn nicht ein-
mal meinem algerischen Verleger wünsche. Kein
Geländer, keine Beleuchtung, nur ein paar abgetre-
tene Stufen, die in der Dunkelheit schweben, be-
reit, uns ins Nichts zu befördern.
Die Tür, die uns interessiert, modert am Ende des
Ganges vor sich hin. Links davon hört man ein
Baby schreien. Ich ziehe meine Knarre und breche
die Tür mit einem Fußtritt auf. „Polizei!“
Ein Tisch stürzt mit Gepolter um, man hört zwei
Flüche, und schon ballert ein Schießeisen in unsere
Richtung los.
Ich dringe wahllos feuernd als erster ein. Ein zer-
rissener Vorhang winkt uns Lebewohl. Der Dealer
ist über die Dächer davon. Er ist nicht allein. Ein
Klumpfuß hüpft Hals über Kopf hinter ihm her.
„Polizei! Stehenbleiben …“
Eine Gruppe Frauen läßt die Wäsche fallen und
läuft schreiend auseinander. Der Klumpfuß gerät
mit dem Fuß in einen Eimer, fällt hin, schickt uns
eine Salve entgegen. Lino schießt zurück und trifft
ihn an der Schulter.
Der Dealer kommt zurück, um seinem Kumpel
aufzuhelfen, zögert angesichts unseres Ansturms,
wägt Pro und Kontra gegeneinander ab. Schließlich
jagt er dem Hinkebein eine Kugel in den Schädel
und entkommt durch eine Waschküche.
„Nimm die Stiege!“ rufe ich Lino zu.
Der Leutnant verschwindet.
Hinter der Waschküche ist eine weitere Terrasse.
Ein Treppenhaus führt in ein furchterregendes Ge-
bäude hinunter. Hinter den Türen kreischen die
Frauen. Ich steige mit butterweichen Knien in die
Hölle hinab.
„Gib mir mein Kind zurück!“ schluchzt eine
Mutter. „Es ist krank. Laß es in Ruhe!“
Der Dealer kann nicht vor noch zurück, das Kind
hat er als Schutzschild vor sich. Lino setzt Himmel
und Hölle in Bewegung, um die Mutter in der De-
ckung zurückzuhalten.
„Laß den Kleinen los!“ fordere ich den Dealer
auf.
„Nein, und du wirst deinen Hintern von hier fort-
bewegen, du Fettwanst!“ Seine Augen leuchten
seltsam triumphierend auf. „Du wirst ihn auf dem
Gewissen haben“, warnt er mich. „Ich habe nichts
zu verlieren. Eine Bewegung, und das Gesichtchen
des Engels da ist nicht mehr nett anzuschauen.“
Er kichert.
Ich kenne diese Art von Verrückten. Wenn ich
meine Waffe sinken lasse, schießt er mich nieder
und verschwindet mit dem Kind. Wenn ich sie o-
ben lasse, gewinne ich Zeit zum Überlegen.
Lino versucht, ihn abzulenken. Der Dealer ge-
wöhnt ihm das mit einem schnellen Schuß zur Sei-
te ab.
„Keine Bewegung, Scheißkerl!“
„Wenn du dem Kleinen auch nur ein Haar
krümmst, verspreche ich dir, ich schneide dich in
Scheibchen.“
Er wühlt hektisch in den Haaren des Buben.
„Du hast verloren, du häßlicher Dickwanst. Jetzt
kannst du drei Tage pausenlos fasten. Und nun geh
zur Seite und wirf dein Spielzeug herüber.“
Hinter ihm taucht über der Mauer der Kopf von
Serdj auf.
„Schon gut“, sage ich und breite langsam die
Arme aus. „Laß den
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