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Commissaire-Llob 1 - Morituri

Commissaire-Llob 1 - Morituri

Titel: Commissaire-Llob 1 - Morituri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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er ihn sezierte. Doch die Jahre
    bescheren den nachfolgenden Generationen uner-
    hörte Erkenntnisse. Naivität und Genialität, Ver-
    läßlichkeit und Fehlbarkeit, Recht und Unrecht
    lösen einander in willkürlichem Wechsel ab. Wie
    viele Schurken von einst werden heute hoch ge-
    rühmt? Wieviel Hirngespinste haben sich im nach-
    hinein als erstaunliche Prophezeiung erwiesen …?
    In Wirklichkeit, Llob, gibt es weder die absolute
    Wahrheit noch die totale Lüge: Es gibt nur Dinge,
    an die man glaubt, und andere, an die man nicht
    glaubt …“
    In diesem Moment splittert das Fenster. Sid Lan-
    kabout wird auf den Schreibtisch geworfen, sein
    Schädel von einer großkalibrigen Kugel zerfetzt.
    Ich kann gerade noch eine Silhouette erkennen, die
    draußen hinter dem Felsen hervorspringt und in
    Richtung einer Hecke davonläuft. Dann höre ich,
    wie ein Wagen mit quietschenden Reifen wegfährt.

    17

    Der Direktor hat darauf bestanden, das Ende von
    Abou Kalybse zu feiern. Zum kleinen Empfang,
    den er im Sitz der Direktion organisiert hat, sind
    die Sekretärin des Verwaltungsbezirks, einige
    Kommissare, eine Handvoll Offiziere der Spezial-
    einheiten und eine Schar Journalisten geladen. Der
    oberste Polizeichef hat abgesagt, jedoch einen er-
    müdend geschwätzigen Vertreter geschickt, der
    sich mehr dafür interessiert, wie wohl der Bezwin-
    ger der Bestie ausschaut, als eine Lobrede zu hal-
    ten. Dafür preist der Direktor meine „Ausdauer“
    und meinen „Sinn für Selbstlosigkeit“. Er nennt
    mich beim Vornamen, und prompt werde ich so rot
    wie eine Jungfrau beim Anblick eines Hotdogs.
    Alle sind sie der gleichen Meinung, daß Abou
    Kalybse ein verteufelter Brocken gewesen sei.
    Wenn man sie so hört, könnte man meinen, der
    Terrorismus sei nun ausgelöscht.
    Man drückt mir die Hand, man klopft mir die
    Schulter, man knufft mir triumphierend in den
    Wanst – und nicht einer, der es für nötig befände,
    Lino zu gratulieren. Der schämt sich fast für seine
    Anwesenheit, Lino der Untergebene, Lino der
    Packesel, Lino, zur Sache reduziert, ohne Ruhm
    und ohne Verdienst. Allzuviel macht es ihm nicht
    aus. Lino weiß, daß in einer Gesellschaft, in der
    man selten danke und niemals Entschuldigung
    sagt, Undankbarkeit völlig natürlich ist.
    Später wird er mir anvertrauen, daß er als Jung-
    geselle wider Willen alle Ehrungen der Welt für
    eine bescheidene Zwei-Zimmer-Wohnung gäbe,
    um endlich eine Familie gründen zu können. Möge
    Sankt Nimmerlein ihn erhören!

    Zu Hause langweilen sich die Kinder vor dem
    Fernseher. Unsere Politprominenz streitet um eine
    derart nervtötende Nebensächlichkeit, daß meine
    Tochter davon fast eine Depression bekommt.
    Ich hänge meine Jacke an den Nagel und lasse
    mich in der Küche nieder. Mina serviert mir eine
    Zwiebelsuppe mit ein paar Nudeln drin. Es geht ihr
    nicht gut, meinem kleinen Aschenputtel. Nur unge-
    schickte Gesten, nur ausweichende Blicke. Ich hal-
    te sie am Handgelenk fest. Sie sträubt sich, will
    sich nicht auf meine Knie setzen.
    „Du bist heute nicht ganz auf der Höhe, mein
    Schatz.“
    Sie greift sich gequält an die Stirn.
    „Sie reden im Radio von deinem Erfolg.“
    „Haben sie meinen Namen erwähnt?“
    „Nein, aber so gut wie.“
    Sie macht sich Sorgen. Sie tut nichts anderes. Ihr
    Ältester ist fortgegangen, ihre Große langweilt
    sich, weil sie keinen Verehrer findet, ihr Ehemann
    ist die Hauptattraktion bei der Terroristen-
    Olympiade … Wenn ich aus dem Haus gehe,
    wacht sie hinter dem Fenster. Wenn ich fünf Minu-
    ten Verspätung habe, verliert sie die Nerven. Mina
    macht sich kaputt. Ihre Rundungen, die wie keine
    anderen meinen Pulsschlag mit ihrem Hüft-
    schwung in Einklang gebracht haben, sind er-
    schlafft. Ihr Herz klopft nur mehr vor Schreck und
    aus Wut.
    „Mach dir keine Sorgen, Liebling. Renkt sich al-
    les wieder ein.“
    Gegen drei Uhr nachts schreckt mich das Telefon
    aus meiner Schlaflosigkeit. Ich hebe ab.
    „Hallo, Habibo*!“ bellt eine verstellte Stimme,
    „gute Arbeit geleistet. [* arab. Habib = Liebling, Schätz-chen] Ich danke dir. Du hast mir einen Dorn aus dem Fuß gezogen … Geht’s gut, nicht zu müde?
    Wetten, du hattest gerade einen Alptraum?“
    „Gut, daß du angerufen hast. Ich wäre vor Angst
    fast gestorben.“
    „Ach ja …?“ Er legt auf.
    Mina rührt sich unter der Bettdecke.
    „Wer war das?“
    „Ein klaustrophober Nachtschwärmer.“
    Sie richtet sich auf. Ihre Augen leuchten im

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