Commissaire-Llob 1 - Morituri
er ihn sezierte. Doch die Jahre
bescheren den nachfolgenden Generationen uner-
hörte Erkenntnisse. Naivität und Genialität, Ver-
läßlichkeit und Fehlbarkeit, Recht und Unrecht
lösen einander in willkürlichem Wechsel ab. Wie
viele Schurken von einst werden heute hoch ge-
rühmt? Wieviel Hirngespinste haben sich im nach-
hinein als erstaunliche Prophezeiung erwiesen …?
In Wirklichkeit, Llob, gibt es weder die absolute
Wahrheit noch die totale Lüge: Es gibt nur Dinge,
an die man glaubt, und andere, an die man nicht
glaubt …“
In diesem Moment splittert das Fenster. Sid Lan-
kabout wird auf den Schreibtisch geworfen, sein
Schädel von einer großkalibrigen Kugel zerfetzt.
Ich kann gerade noch eine Silhouette erkennen, die
draußen hinter dem Felsen hervorspringt und in
Richtung einer Hecke davonläuft. Dann höre ich,
wie ein Wagen mit quietschenden Reifen wegfährt.
17
Der Direktor hat darauf bestanden, das Ende von
Abou Kalybse zu feiern. Zum kleinen Empfang,
den er im Sitz der Direktion organisiert hat, sind
die Sekretärin des Verwaltungsbezirks, einige
Kommissare, eine Handvoll Offiziere der Spezial-
einheiten und eine Schar Journalisten geladen. Der
oberste Polizeichef hat abgesagt, jedoch einen er-
müdend geschwätzigen Vertreter geschickt, der
sich mehr dafür interessiert, wie wohl der Bezwin-
ger der Bestie ausschaut, als eine Lobrede zu hal-
ten. Dafür preist der Direktor meine „Ausdauer“
und meinen „Sinn für Selbstlosigkeit“. Er nennt
mich beim Vornamen, und prompt werde ich so rot
wie eine Jungfrau beim Anblick eines Hotdogs.
Alle sind sie der gleichen Meinung, daß Abou
Kalybse ein verteufelter Brocken gewesen sei.
Wenn man sie so hört, könnte man meinen, der
Terrorismus sei nun ausgelöscht.
Man drückt mir die Hand, man klopft mir die
Schulter, man knufft mir triumphierend in den
Wanst – und nicht einer, der es für nötig befände,
Lino zu gratulieren. Der schämt sich fast für seine
Anwesenheit, Lino der Untergebene, Lino der
Packesel, Lino, zur Sache reduziert, ohne Ruhm
und ohne Verdienst. Allzuviel macht es ihm nicht
aus. Lino weiß, daß in einer Gesellschaft, in der
man selten danke und niemals Entschuldigung
sagt, Undankbarkeit völlig natürlich ist.
Später wird er mir anvertrauen, daß er als Jung-
geselle wider Willen alle Ehrungen der Welt für
eine bescheidene Zwei-Zimmer-Wohnung gäbe,
um endlich eine Familie gründen zu können. Möge
Sankt Nimmerlein ihn erhören!
Zu Hause langweilen sich die Kinder vor dem
Fernseher. Unsere Politprominenz streitet um eine
derart nervtötende Nebensächlichkeit, daß meine
Tochter davon fast eine Depression bekommt.
Ich hänge meine Jacke an den Nagel und lasse
mich in der Küche nieder. Mina serviert mir eine
Zwiebelsuppe mit ein paar Nudeln drin. Es geht ihr
nicht gut, meinem kleinen Aschenputtel. Nur unge-
schickte Gesten, nur ausweichende Blicke. Ich hal-
te sie am Handgelenk fest. Sie sträubt sich, will
sich nicht auf meine Knie setzen.
„Du bist heute nicht ganz auf der Höhe, mein
Schatz.“
Sie greift sich gequält an die Stirn.
„Sie reden im Radio von deinem Erfolg.“
„Haben sie meinen Namen erwähnt?“
„Nein, aber so gut wie.“
Sie macht sich Sorgen. Sie tut nichts anderes. Ihr
Ältester ist fortgegangen, ihre Große langweilt
sich, weil sie keinen Verehrer findet, ihr Ehemann
ist die Hauptattraktion bei der Terroristen-
Olympiade … Wenn ich aus dem Haus gehe,
wacht sie hinter dem Fenster. Wenn ich fünf Minu-
ten Verspätung habe, verliert sie die Nerven. Mina
macht sich kaputt. Ihre Rundungen, die wie keine
anderen meinen Pulsschlag mit ihrem Hüft-
schwung in Einklang gebracht haben, sind er-
schlafft. Ihr Herz klopft nur mehr vor Schreck und
aus Wut.
„Mach dir keine Sorgen, Liebling. Renkt sich al-
les wieder ein.“
Gegen drei Uhr nachts schreckt mich das Telefon
aus meiner Schlaflosigkeit. Ich hebe ab.
„Hallo, Habibo*!“ bellt eine verstellte Stimme,
„gute Arbeit geleistet. [* arab. Habib = Liebling, Schätz-chen] Ich danke dir. Du hast mir einen Dorn aus dem Fuß gezogen … Geht’s gut, nicht zu müde?
Wetten, du hattest gerade einen Alptraum?“
„Gut, daß du angerufen hast. Ich wäre vor Angst
fast gestorben.“
„Ach ja …?“ Er legt auf.
Mina rührt sich unter der Bettdecke.
„Wer war das?“
„Ein klaustrophober Nachtschwärmer.“
Sie richtet sich auf. Ihre Augen leuchten im
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