Commissaire-Llob 1 - Morituri
auf. Und mit schäbiger Vet-
ternwirtschaft und Komplizentum steigt man auch
nicht in den Rang einer Nation empor.
Lino hat seine Begeisterungsausbrüche ein für al-
le Mal abgestellt. Er weiß jetzt, was hinter dem
Reichtum der anderen steckt. Lino ist hart gewor-
den. Verbittert, aber hart im Nehmen. Es hat eine
Weile gebraucht, ihm die Augen zu öffnen, aber
jetzt hat er den Durchblick.
Er verachtet die Arroganz der Paläste und inte-
ressiert sich ausschließlich für deren Hausnum-
mern. Die Nummer 17 läßt es sich am Ende der
Straße gutgehen, die Nase zum Garten gereckt, das
Hinterteil in Sand gebettet. Ein architektonisches
Schmuckstück mit blauem Stein auf der Fassade,
Arkaden auf der Veranda und einer Schwingtür,
die niedlicher ist als jede Nippesfigur.
Sid Lankabout läßt uns fünf Minuten schmoren,
bevor er uns öffnet.
„Llob?“ Er zieht die Brauen hoch.
„Überrascht?“
„Absolut. Welcher Wind hat euch hierher ge-
weht?“
„Der Wind, der sich dreht, Monsieur Lankabout.“
Er streicht die Vorderseite seines Hausmantels
glatt, betrachtet Lino.
„Ich kann euch nicht hereinbitten. Ich schreibe
gerade.“
„Sie werden im Gefängnis noch genug Zeit ha-
ben, an Ihrer Litanei herumzufeilen.“
Kaum bemerkbar schnellt seine rechte Braue
nach oben. Der Rest bleibt reglos.
„Ich verstehe“, meint er.
Seine Gelassenheit soll mich wohl glauben ma-
chen, daß er ein Mann von Charakter ist. Seine
lange Liaison mit den Mächtigen im Staat hat ihn
eine falsche theatralische Größe annehmen lassen.
Er errät den Grund meines Besuchs, doch die
Verachtung, die er für mich hegt, verbietet ihm,
mir auch nur im geringsten entgegenzukommen.
Ich drücke ihn zur Seite und betrete sein Domizil.
Im Salon lagert ein ganzes Arsenal von elektroni-
schem Spielzeug, Soft- und Hardware, Faxgeräte
und Funkanlagen, die den Ort zum Sitz eines Ge-
neralstabs machen.
„Das also ist Ihr apokalyptisches Labor, Monsi-
eur Abou Kalybse?“
„Ich habe Sie beträchtlich unterschätzt, Llob.“
„Den Polizisten oder den Schriftsteller?“
„Beide. Jedesmal, wenn ich Ihren Namen auf die
schwarze Liste setzen wollte, hat mich meine kate-
gorische Weigerung, Ihnen Talent zuzugestehen,
davon abgehalten. Gleichzeitig hat es mir Spaß
gemacht, Ihren Ruf als Spürnase auf die Probe zu
stellen.“
Ich befehle Lino mit einer Kopfbewegung, die
obere Etage zu inspizieren.
Sid Lankabout nimmt feierlich hinter seinem
Schreibtisch Platz und streichelt die Blätter, die
randvoll mit seinen Inspirationen sind. „So ein
schöner Roman“, seufzt er.
„Das sagt man sich immer, bevor der Lektor sein
Gutachten vorlegt.“
An den Wänden hängen die Porträts der kürzlich
ermordeten Intellektuellen, die Jagdliste des Abou
Kalybse. Die Trophäen seines düsteren Ruhms:
drei Schriftsteller, vier Gelehrte, ein Theokrat, fünf
Journalisten, ein Schauspieler und ein Professor.
Mein Blick bleibt am kauzigen Gesicht meines
verstorbenen Freundes Aït Méziane hängen. Mein
Herz krampft sich zusammen. „Welch ein Ver-
lust!“
Sid Lankabout sammelt seine Blätter ein, stapelt
sie, klopft den Packen mit der Handfläche glatt.
Das Fenster hinter ihm geht auf einen Fels hinaus,
an dem die Wellen lecken.
Er beginnt vorzulesen: „Gott vermag die Lage
eines Volkes nur zu verbessern, indem er seine
Mentalität korrigiert.“
„Vielleicht sollte man lieber die Ihre korrigie-
ren.“
„Ich denke nicht. Wenn ich all diese degenerier-
ten Bastarde sehe, die unsere Städte überfluten,
diese amerikanisierten Jugendlichen, diese Intel-
lektuellen, die sich anstrengen, uns eine Kultur
einzutrichtern, die nicht die unsere ist, und uns
allen Ernstes glauben machen wollen, daß ein Ver-
laine zehn Chawqis aufwiegt und ein Pulitzer zehn
Aqqads, daß Gide die reine Wahrheit und Tawfik
Al-Hakim* ein Nichts ist, daß die Transzendenz
abendländisch ist und es Rückschritt bedeutet, zum
Arabischen zurückzukehren, dann tue ich nur das,
was Goebbels angesichts Thomas Manns auch ge-
tan hätte: ich ziehe die Pistole.“ [ * Ahmed Chawqi (auch Chawki oder Shawki), 1868-1932, Abbas Mahmud Al-Aqqad (auch Akkad), 1889-1964, Hussein Tawfik Al-Hakim, 1899-1987: ägyptische Dichter, drei der bedeutendsten Autoren der modernen arabischen Literatur. Al-Aqqad, berühmt wegen seines virtousen Umgangs mit der arabischen Sprache, war auch als kritischer Publizist hoch angesehen, deshalb hier
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