Commissaire-Llob 1 - Morituri
der Vergleich mit Pulitzer.]
Er verstaut seine Blätter in einer Mappe, legt sie
in eine Schublade. Dann blickt er auf. „Sollte man
den Dämon austreiben oder ihn zähmen …? Es
mußte eine Entscheidung getroffen werden. Und
ein Dämon läßt sich nicht zähmen.“
Ich zeige auf die Porträts: „Das waren weder
Dämonen noch Verrückte, Sid. Das waren einfa-
che, ehrliche, brave Leute. Sie hatten Kinder,
Hoffnungen, legitime Ansprüche und wollten nie-
mandem etwas Böses.“
„Dummes Zeug! Als ich gegen die Kolonialher-
ren zu den Waffen gegriffen habe, war das nicht
zum Vergnügen. Ich habe von einem algerischen
Algerien geträumt mit Koranschulen und Mo-
scheen und turbantragenden Gelehrten. Von einem
Land, das stolz ist auf seine Identität, seine Ge-
schichte, seine Erde, unverwechselbar unter Tau-
senden; stolz auf die Vielfalt seiner Dialekte, seine
Sprache, seine Traditionen … Und was sehe ich?
Algier ist so verdorben wie jede Metropole jenseits
des Meeres, ein Volk ohne Charakter, häretische
Universitäten, ein Schicksal von tödlicher Triviali-
tät.“ Er deutet verächtlich auf seine Opfer: „Das
waren keine braven Leute, Llob. Sie waren hinter-
hältig, arglistig, zerstörerisch. Die reinsten Motten.
Sie waren unsere Feinde, Verräter. Sie standen im
Sold der Abtrünnigen, waren Handlanger des Teu-
fels.“
„Aït Méziane hatte kaum was zum Beißen. Er hat
seine Schulden mit ins Grab genommen.“
„Er war ein mieser Gaukler. Er verkörperte die
Person des zersetzenden, zynischen, negativen Al-
geriers, den wir alle ablehnen … So konnte das
nicht weitergehen. Es war zuviel des Lächerlichen.
Der Wald mußte niedergebrannt werden, um Platz
für einen neuen zu schaffen, ohne Ratten und
Schmeißfliegen, schädlingsfrei und widerstandsfä-
hig …“
Kein Zweifel, der Mann, der da mit mir redet, ist
verrückt. Ich betrachte seine Wangen, seine glit-
zernden Augen, den Schweiß, der ihm über die
Schläfen rinnt, seine Finger, die so zittern wie sei-
ne Stimmbänder …
„Du warst es doch, der die sicheren Werte immer
verabscheut hat, Sid, du bist der lebende Wider-
spruch. Ich habe dich nur als Spielverderber ge-
kannt, nachtragend, mürrisch, allergisch gegen gute
Laune. Der Erfolg der anderen hat dich immer nur
gestört. Du hast ihr Talent als persönliche Beleidi-
gung empfunden. Nur weil du der geborene Pech-
vogel bist, hat in deinen Augen nichts einen Wert.
Du sprichst von deinen Träumen und läßt Alp-
träume wahr werden. Eine gräßliche Spinne, die in
den Tiefen ihres Netzes lauert: das bist du und
sonst nichts. Neidisch auf jeden Schriftsteller, je-
den Künstler, der dir die Schau stiehlt. Dein Leben
lang wolltest du die Welt überflügeln, über sie er-
strahlen, aber nicht durch dein Genie – davon hast
du keinen Funken –, sondern durch die zerstöreri-
sche Flamme deines Hasses, du, der Schreibknecht
der Tyrannen, eingesetzt nicht um zu lehren und
Orientierung zu geben, sondern um die wahre Elite
zu sabotieren, so wie ein einziger kranker Baum
den ganzen Wald verderben kann. Wer der Lüge
dient, verfängt sich in ihr. Deine Freunde aus dem
alten Regime haben dich, deinen Egozentrismus,
deinen Größenwahn nur benutzt. Sie haben dich
gegen deine natürlichen Verbündeten und gegen
dich selbst aufgebracht. Sie haben dich an den Hö-
henrausch gewöhnt und dann auf einer Wolke ver-
gessen. Aber du bist nicht Gott und auch kein En-
gel, Monsieur Lankabout. Du bist eine jämmerliche
Utopie. Du flößt den Lebenden wie den Toten nur
Mitleid ein …“
Er streckt mir seine Hände entgegen, liefert sich
mir aus.
„Du brauchst keine Handschellen“, erwidere ich.
„Eher eine Zwangsjacke.“
Er betrachtet die Innenseite seiner Hände, dreht
sie um, stützt sich ab, um aufzustehen. Ganz behut-
sam. Seine Finger berühren einander, verschränken
sich. Sid wähnt sich vor erlauchtem Publikum,
schickt sich an, das Wort zu ergreifen. Durchs
Fenster flutet das Licht herein und umhüllt ihn wie
ein Nessusgewand. Er ist nur mehr ein Phantom,
ein Schatten, der sich aus dem Tageslicht löst.
„Als verrückt gilt, was sich dem Verständnis der
Menge entzieht“, sagt er mit tonloser Stimme.
„Verrückt ist der Weise, der seine Gelehrsamkeit
vor dem gemeinen Volk ausbreitet. Galilei war in
den Augen der Kirche verrückt. Und als verrückt
galt Ibn Sina, der den Körper eines Menschen
schändete, indem
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