Commissaire-Llob 2 - Doppelweiß
verlieren.“
„Ich bin solide geworden. Ich sehe nicht, wie ich
euch helfen könnte. Ich bin sehr viel mehr damit
beschäftigt, meine Haut zu retten, als sie zu ernähren. Das hier ist mein dreizehntes Versteck in den
acht Monaten, seit ich untergetaucht bin. Ich gehe
noch nicht mal mehr ins Freie, um Luft zu schöp-
fen. Gaïd ist mir auf den Fersen. Er hat meinen
Cousin getötet, mein Haus in die Luft gejagt und
den Rest meiner Familie gezwungen, ins Exil zu
gehen. Ich war noch nicht mal auf der Beerdigung
meiner Großmutter.“
„Bitte beruhige dich.“
„Ihr denkt wohl, das geht so leicht. Ihr kommt
mit eurem ganzen Geschütz angefahren, scheucht
alles auf und wollt dann auch noch, daß ich Beifall klatsche. Wo soll ich mich als nächstes vergraben?
Ich habe drei epileptische Kinder, eine nerven-
kranke Frau und kein Loch, um sie unterzubrin-
gen.“
„Wir besorgen dir einen Unterschlupf.“
Er zieht sich die Decke über den Kopf und murrt
weiter, wobei seine knochigen Schultern krampfar-
tig zucken.
„Ich kann nicht mehr. Ich bin fix und fertig. Ich
bring meine Frau und die Kinder um und schneid
mir zum Schluß selber die Kehle durch.“
Er drückt den Nacken durch, richtet den Kopf
auf, wischt sich resigniert die Tränen vom Gesicht.
„Ja …! Das wäre vermutlich das Beste für uns!“
Tahar Brik sollte uns eine Auflistung aller mögli-
122
chen Verstecke von Gaïd, dem Friseur, übergeben.
Ich ließ um jeden Unterschlupf einen Beobach-
tungsring ziehen, baute ein Alarmsystem auf, das
es dem Einsatzteam ermöglichen würde, binnen
zwanzig Minuten an Ort und Stelle zu sein, und
wartete im Vertrauen auf meine Strategie eine Wo-
che lang, bis das erste Lämpchen auf meiner
Schalttafel zu blinken begann.
Am Freitag um neunzehn Uhr meldet Alarmglo-
cke Nummer 8, daß auf Höhe von Versteck „H“ in
Haï El Moustaqbal ein verdächtiger Wagen aufge-
kreuzt ist. Ich verfrachte Lino ans Steuer, verstaue Ewegh auf dem Rücksitz, und ab geht die Post.
Es gibt würdige Namen und andere, die sind so
was von stupide, daß sie nicht einmal ein Zähne-
knirschen provozieren. Eine lose Ansammlung
trostlos vor sich hin modernder Baracken, querbeet
über eine von fauligen Rinnsalen und Elend über-
quellende Pampa verstreut, hochtrabend auf den
Namen Haï el Moustaqbal, „Stadt der Zukunft“, zu
taufen, ist der blanke Hohn. Haï el Moustaqbal
erkühnt sich gar nicht mehr zu hoffen. Auf seinen
Horizonten lastet ein Fluch. Seine Zukunft geht vor Angst in die Knie. Das Viertel wirkt, als habe es
gerade einen Nervenzusammenbruch hinter sich.
Keine einzige Straßenlaterne, kein Gully. Ein ver-
sehrtes Niemandsland, von den einen verleumdet,
von den anderen verleugnet, ein Stück Erde, dem
Untergang geweiht, wo der Mensch weder Indivi-
duum noch Staatsbürger ist und in einem Klima
völliger Apathie geboren wird und stirbt.
Unsere Alarmglocke empfängt uns auf einer zum
Beobachtungsposten umfunktionierten Dachterras-
123
se. Es ist ein hinfälliger Greis, der beschlossen hat, lieber dem Tod zu trotzen, als dieses Leben zu ertragen – einer jener anonymen Patrioten, die in-
kognito die vom Fundamentalismus verseuchten
Viertel durchstreifen und uns regelmäßig den Puls-
schlag der Masse durchgeben.
„Der Lieferwagen steht seit einer Stunde da“,
empfängt er uns und weist mit knochigem Finger
auf die Räuberhöhle.
Ich taste mit dem Fernglas den Innenhof ab.
„Und wer wohnt da?“
„Der Besitzer ist letzten September ausgezogen.
Einer seiner Söhne ist zur Zeit bei der Armee. Heu-
te ist zum ersten Mal jemand da.“
„Vielleicht der Besitzer“, mutmaßt Lino.
„Der Wagen wurde um 16 Uhr von einem be-
waffneten Mann auf der Küstenstraße gestohlen“,
entgegnet der Patriot. „Ich habe das im Radio ge-
hört.“
Die Nacht legt sich immer dichter auf das Bruch-
budenviertel. In Versteck „H“ sind keine Lichter
angegangen. Die Geräusche werden seltener, die
Gassen immer leerer. Ein Fuhrmann quält sein
Maultier die Wagenspur entlang. Seine Flüche ge-
hen unter im Ruf des Muezzins. Wir überwachen
zwei Stunden lang die Umgebung. Kein Lebens-
zeichen im Innenhof. Wir beschließen nachzuse-
hen, was da los ist.
Ewegh läuft zur Rückseite der Baracken. Lino
und ich klettern über eine Leichtbetonmauer, um
nicht durch den Innenhof zu müssen. Im Haus
herrscht Grabesstille.
Ich versuche mich an der Türklinke. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher