Commissaire-Llob 2 - Doppelweiß
Quiet-
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schen zwingt mich zum Rückzug. Wir entdecken
ein Fenster mit eingeschlagener Scheibe. Lino ist
als erster drin. Ich folge ihm in ein enges, kahles Zimmer. Wir drücken uns rauhe Korridorwände
entlang, gelangen in ein anderes Zimmer. Plötzlich
geht das Deckenlicht an und wir stoßen auf ein
riesenhaftes, leichenblasses, grauenvolles Ge-
schöpf. Es liegt mit nacktem Oberkörper auf einer
verrotteten Matratze, eine Hand auf der blutenden
Flanke, in der anderen Hand eine Fernbedienung.
Das Blut hat den Hosenbund überschwemmt, ist
durch die Matratze gesickert und hat den Boden
befleckt.
„Willkommen an Bord, Kommissar Llob!“ ruft er
mir mit geschwächter, aber fester Stimme entge-
gen.
Meine Hämorrhoiden platzen schlagartig auf wie
eine Garbe Kaktusfeigen. Ich brauche mich nicht
umzudrehen, um zu erraten, daß Lino sich gleich in
die Hose machen wird.
Gaïd der Friseur lächelt uns zu von jenseits des
Grabes.
„Diese Fernbedienung, die ich hier habe, die ist
nicht für den Fernseher.“
„Das haben wir geschnallt.“
Er röchelt und reckt den Hals. Seine Hand fährt
schmerzvoll über seine verwundete Flanke. Ich
mache einen Schritt nach vorn.
„Zurück!“ fährt er mich an. „Da sind drei Kilo
TNT unter deinem Body. Ein Daumendruck auf
dieses Ding, und dein lieber Gott höchstpersönlich
würde das Puzzle nicht mehr zusammenkriegen.“
Ich weiche zurück.
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Das Reden hat ihn angestrengt. Er blickt mich
haßerfüllt an. Der Schmerz reitet die nächste Atta-
cke gegen ihn. Er krümmt sich um seine Wunde
herum, ohne uns aus dem Blick zu lassen.
„Wie viele Liter Blut hat der menschliche Kör-
per, Kommissar?“
„Hängt davon ab, wieviel einem an den Händen
klebt.“
Seine Brauen ziehen sich zusammen. Ein Schau-
er zuckt ihm durch Kiefer und Wangenknochen.
„Unglaublich. Ich pisse seit mehr als sechs Stun-
den Blut und schaffe es nicht, in Ohnmacht zu fal-
len.“
„Dazu reicht eben deine Macht nicht. Wir brin-
gen dich ins nächste Krankenhaus.“
„Nett von Ihnen, Kommissar, aber ich trau Ihnen
nicht.“
Seine Finger krümmen sich. Er windet sich, die
Fernbedienung macht sich selbständig und knallt
auf die Fliesen. Eine Schicht Glatteis kristallisiert auf meinem Rücken. Ich höre, wie Lino vor Panik
ins Stolpern gerät. Sein Atem bläst mir in den Na-
cken. Ich begreife endlich, was es heißt, wenn man
sagt: „jemandem auf den Leim gehen“.
„Paß auf, mein Junge, diese Art von Spielzeug ist
unberechenbar.“
Gaïd lacht höhnisch. Seine Finger tätscheln das
Werkzeug des Todes, heben es wieder auf.
„Mir gefällt dein Humor, Kommissar. Wird be-
stimmt vergnüglich mit dir, die große Reise!“
„Leg das Ding da beiseite und laß uns reden. Der
Krankenwagen steht bereit. Du wirst genauso ver-
arztet wie jeder andere Verletzte auch.“
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„Ich habe schon einen Platz im Paradies reser-
viert.“
„Mensch, mach keinen Quatsch!“ kreischt Lino
völlig aufgelöst. „Denk an die Ärmsten, die gleich
nebenan hausen. Du jagst doch das ganze Viertel in
die Luft.“
„Bei dem Hundeleben, das die hier führen, er-
weise ich denen einen unbezahlbaren Dienst.“
Sein Daumen streichelt furchterregend die Fern-
bedienung.
Wie im Wahn, mit ausgedörrter Kehle und fla-
cher Brust, flehe ich ihn an: „Warte doch, warte.
Tu das nicht, das bringt doch nichts …“
„Alle Mann einsteigen!“
Eine gigantische Detonation … Ich habe das ver-
schwommene Gefühl, mich in schwindelerregen-
dem Tempo zu zersetzen. Ich bin ein Komet, der
ins Nichts abdriftet … Dann fasse ich mich. Das
erste, was mich mit der Welt der Lebenden aus-
söhnt, ist der geplatzte Schädel des Friseurs. Er
liegt auf dem Kopfkissen und starrt mich aus glasi-
gem Auge an, mit einem Loch in der Schläfe, ei-
nem anderen am Hals. Ewegh schlägt das Fenster
mit einem Schulterstoß ein, stellt ein Bein an Bord und landet im Zimmer, die Knarre unablässig auf
die Matratze gerichtet. Die Detonation, das war er.
Lino seinerseits macht sich eilends daran, die Bat-
terien aus der Fernbedienung zu nehmen. Er ist
bleich bis unter die Haarwurzeln und zittert wie
eine alte Hexe in Trance.
Wir haben die Wohnung bis in den letzten Win-
kel gefilzt und weder eine Bombe noch eine Dis-
kette gefunden. Gaïd hat nur geblufft. Er wollte
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sich ganz einfach ins Jenseits absetzen, und wir
waren ihm dabei behilflich.
„Bravo!“ gröhlt der
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