Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
gestern und noch heute früh. Wir sind von Tür zu Tür gelatscht, doch kein Mensch hat Nabilou auf dem Foto wiedererkannt.«
»Und der Wagen?«
»Wurde vor drei Wochen in Chief gestohlen. Gut getarnt, neu gespritzt, falsches Nummernschild, gefälschter Fahrzeugbrief, neue Reifen, aufgemotzt mit Radkappen und Stoßstange … Für einen unbescholtenen Bürger ein prima Job.« Er verleibt sich das halbe Glas Saft und die Hälfte seines Schoko-Croissants ein und meint noch: »Der muß ganz frisch angeworben sein.«
»Praktizierender Gläubiger?«
»Man hat ihn nie in der Moschee gesehen. Aber das will heutzutage nichts mehr heißen. Der Krieg hat es mit sich gebracht, daß sie inzwischen jeden rekrutieren.«
»War er verheiratet?«
»Geschieden, kinderlos. Die Mutter tot, der Vater impotent. Die reinste Sackgasse.«
Ich drehe nachdenklich das Glas in meinen Händen.
Ewegh hat seines noch nicht angerührt. Er sitzt stocksteif da und überwacht, was sich draußen tut - eine Kobra, die auf Beute lauert.
»Wer hat ihm bloß das Genick gebrochen?« werfe ich beiläufig ein. »So viel ich weiß, findet seit 1962 kein Jahrmarkt mehr statt. Aus welchem Zirkus mag dieser Herkules entlaufen sein?«
Ewegh zuckt mit keiner Wimper. Lino dagegen scheint das irgendwie unangenehm zu sein.
»Ich bin gerade mal um die Wohnblocks herum. Das hat vielleicht fünf oder sieben Minuten gedauert. Und schon finde ich ihn zusammengesackt überm Lenkrad liegen. Kannst du mir das erklären, Leutnant?«
»Der ist auch von einem beschattet worden, ist doch klar.«
Mein Finger zeigt auf den Targi: »Das warst du!«
»Sein Hals ist mir unter den Fingern weggeknackst«, gibt Ewegh ohne Umstände zu, als handle es sich um ein dummes Malheur. »Ich wollte ihn eigentlich nur aus dem Auto ziehen.«
Lino seufzt, gibt sich geschlagen und erklärt: »Der Direx hatte Ewegh beauftragt, dich zu überwachen. Nach der Geschichte mit den Poltergeistern in deiner Wohnung ging ein Anruf in der Zentrale ein. Anonym. Der Typ ließ durchblicken, daß sie dich umlegen wollten. Vielleicht nur ein Scherz, aber der Direktor zog es vor, auf Nummer Sicher zu gehen. Ewegh wollte ihn wirklich nur festnehmen. Lebendig hätten wir einiges aus dem rausgekriegt, kannst du dir ja denken … War halt ein Unfall.«
Ewegh rührt sich noch immer nicht. Er überwacht den Parkplatz, sonst interessiert ihn nichts.
Lino wechselt plötzlich den Ton: »Willst du mir einen Gefallen tun, Kommy? Fahr zu Mina und den Kindern nach Bejai’a, oder geh nach Igidher zurück, oder laß von mir aus in Oran Gras über die Sache wachsen, aber häng nicht weiter hier herum. Ich bin überhaupt nicht beruhigt. Kein Mensch ist beruhigt …«
Ich will ihm gerade zu verstehen geben, was ich - ehrlich gestanden - von seinen Ratschlägen halte, da zerplatzt plötzlich die Fensterfront in Millionen von Splittern. Ein Sog erfaßt mich und schleudert mich nach hinten. Um mich herum wildes Geschrei. Ich habe Mühe zu begreifen, was passiert ist. Ich liege am Boden, völlig entkräftet, zu schlapp, den Tisch, der auf mir liegt, wegzuschieben. Neben mir Lino, mit aufgerissenen Augen. Ewegh, alle Viere in der Luft, versucht, sich unter dem Berg von Stühlen, in den es ihn verschlagen hat, hochzurappeln.
Im Teesalon herrscht blankes Chaos. Wer nahe der Eingangstür saß, ist unter Trümmern begraben. Unter den gliedlosen Marionetten erkenne ich den Kellner wieder. Er entdeckt soeben voll Entsetzen, daß sein Arm keine Rückmeldung gibt. Er kann es nicht fassen, ist leichenblaß, glaubt nicht, was er sieht. Eine Frau taumelt durch den Qualm, eine Kreatur wie aus einem Gespensterfilm, die Arme weit von sich gestreckt, das Gesicht von der Explosion weggerissen.
»Wo ist meine Tasche?« ruft ein Mädchen blutüberströmt und wühlt verzweifelt im Staub.
Den entstellten Mann vor ihrer Nase scheint sie nicht wahrzunehmen, und auch nicht das verstümmelte Bein, aus dem sich das Blut über ihre Waden ergießt.
»Eine Bombe! Eine Bombe!« ruft jemand wie im Delirium.
Ewegh steht als erster wieder auf, wirbelt eine Staublawine hoch. Er schiebt den Tisch, der mich fast erdrückt hat, zur Seite und hilft mir hoch. »Bist du okay?«
Abgesehen von den Glassplittern im Arm habe ich nicht den Eindruck, verletzt zu sein.
Lino stöhnt. Sein Fuß ist gräßlich verrenkt. »Mir tut mein Knöchel weh!« ächzt er.
Ein Mann taucht aus dem Rauch auf, mit schwärzlichem Gesicht, torkelt und bricht zusammen, der Rücken
Weitere Kostenlose Bücher