Commissario Montalbano 02 - Der Hund aus Terracotta
gefunden.«
» Oddio! «rief Livia aus. » Signora mia, hier ging es den
Kindern gar nicht gut. Als Admiral Leptines im Auftrag von
Dionysios von Syrakus die Insel eroberte, schnitten die
Moziani, bevor sie sich ergaben, ihren Kindern die Kehle
durch. Es war das Schicksal der Kinder von Mozia, daß sie auf
jeden Fall das Nachsehen hatten.«
»Komm, wir gehen«, sagte Livia, »ich will von diesen
Leuten nichts mehr hören.«
Sie beschlossen, nach Pantelleria zu fahren, und dort
verbrachten sie sechs Tage, endlich ohne Diskussionen und
Streitereien. Es war der rechte Ort dafür, daß Livia eines
Nachts fragte: »Warum heiraten wir nicht?«
»Tja, warum nicht?«
Vorsichtshalber vereinbarten sie, in Ruhe noch mal
darüber nachzudenken; Livia würde den kürzeren ziehen, sie
müßte ihr Haus in Boccadasse aufgeben und sich einem neuen
Lebensrhythmus anpassen.
Kaum war das Flugzeug mit Livia gestartet, stürzte
Montalbano zu einem öffentlichen Telefon, rief seinen Freund
Zito in Montelusa an, nannte ihm einen Namen und bekam
eine Telefonnummer in Palermo, die er sofort wählte.
»Professor Ricardo Lovecchio?«
»Am Apparat.«
»Unser gemeinsamer Freund Nicolò Zito hat mir Ihre
Nummer gegeben.«
»Wie geht's dem alten Rotschopf? Ich habe ihn schon
ewig nicht gesehen.«
Der Lautsprecher, der die Passagiere des Flugs nach Rom
aufforderte, sich zum Schalter zu begeben, brachte
Montalbano auf eine Idee, wie er seinem Besuch besondere
Dringlichkeit verleihen konnte.
»Nicolò geht's gut, ich soll Sie von ihm grüßen. Hören
Sie, Professore, ich heiße Montalbano, bin am Flughafen
Punta Ràisi und habe etwa vier Stunden Zeit, bevor ich
weiterfliege. Ich muß mit Ihnen sprechen.« Der Lautsprecher
wiederholte die Aufforderung, als stecke er mit dem
Commissario, der Antworten brauchte, und zwar sofort, unter
einer Decke.
»Sind Sie Commissario Montalbano aus Vigàta, der die
beiden Toten in der Grotte gefunden hat? Ja? So ein Zufall!
Ich wollte Sie in diesen Tagen anrufen! Kommen Sie zu mir
nach Hause, ich erwarte Sie, notieren Sie sich die Adresse.«
»Ich zum Beispiel habe vier Tage und vier Nächte am Stück
geschlafen, ohne Essen und Trinken. Für den Schlaf gesorgt
haben etwa zwanzig Joints, fünf Ficks und ein Schlag auf den
Kopf von der Polizei. Das war 1968. Meine Mutter machte
sich Sorgen, sie wollte einen Arzt holen, weil sie mich im
tiefen Koma glaubte.«
Professor Lovecchio sah aus wie ein Bankangestellter,
wirkte nicht wie fünfundvierzig, und ein Anflug von
Verrücktheit glitzerte in seinen Augen. Es war elf Uhr
vormittags, und er trank Whisky pur.
»An meinem Schlaf war nichts Wunderbares«, fuhr
Lovecchio fort, »für ein Wunder muß man schon ein
Nickerchen von mindestens zwanzig Jahren halten. Im Koran,
ich glaube, in der zweiten Sure, steht, daß ein Mann, in dem
die Kommentatoren Ezra sehen, hundert Jahre lang geschlafen
hat. Der Prophet Salih hat immerhin zwanzig Jahre lang
geschlafen, ebenfalls in einer Höhle, die ja kein gemütlicher
Platz zum Schlafen ist. Die Juden stehen dem nicht nach, sie
rühmen im Jerusalemer Talmud einen gewissen Hammaagel,
der siebzig Jahre lang schlief, natürlich auch in einer Grotte.
Und nicht zu vergessen die Griechen! Epimenides ist nach
fünfzig Jahren in einer Höhle aufgewacht. Tja, damals
brauchte es nur eine Höhle und einen, der todmüde war, damit
ein Wunder geschah. Wie lange haben denn der Junge und das
Mädchen geschlafen, die Sie gefunden haben?«
»Von 1943 bis 1994, fünfzig Jahre lang.«
»Genau die richtige Zeit, um geweckt zu werden.
Verkompliziert es Ihre Schlußfolgerungen, wenn ich Ihnen
sage, daß man im Arabischen ‚sterben’ und ‚schlafen’ mit ein
und demselben Wort bezeichnet? Und daß auch für
»aufwachen« und ‚aufwecken’ nur ein Wort verwendet wird?«
»Professore, es ist wunderbar, Ihnen zuzuhören, aber ich
muß zum Flughafen, meine Zeit ist sehr knapp. Warum
wollten Sie mich eigentlich anrufen?«
»Um Ihnen zu sagen, daß Sie nicht auf den Hund
reinfallen dürfen. Der Hund scheint sich nicht auf den Krug zu
reimen und umgekehrt. Verstehen Sie?«
»Nein.«
»Sehen Sie, die Legende der Schlafenden ist nicht
orientalischen, sondern christlichen Ursprungs. In Europa
verbreitete sie Gregor von Tours. Er spricht von sieben
Jünglingen aus Ephesos, die, um der Christenverfolgung unter
Kaiser Decius zu entgehen, in eine Höhle fliehen, wo Gott
dafür
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