Commissario Montalbano 02 - Der Hund aus Terracotta
Höhle.«
Montalbano spürte eine Art leichten Schlag an der
Wirbelsäule und fand keinen Grund dafür.
»Höhle?«
»Ja, al-kahf, Höhle. In der Sure steht, daß Gott dem
Wunsch einiger Jünglinge, die sich nicht verführen lassen,
nicht vom wahren Glauben abfallen wollten, entsprach und sie
in einer Höhle in tiefen Schlaf versetzte. Damit in der Höhle
immer völlige Dunkelheit herrschte, ließ er die Sonne einen
anderen Weg nehmen. Sie schliefen etwa dreihundertneun
Jahre lang. Auch ein Hund schlief bei ihnen, er lag in
Wachstellung vor dem Höhleneingang, mit ausgestreckten
Vorderbeinen...«
Er unterbrach sich, als er sah, daß Montalbano
leichenblaß geworden war und den Mund auf und zu machte,
als müsse er nach Luft schnappen.
»Signore, was ist los? Ist Ihnen nicht wohl, Signore? Soll
ich einen Arzt holen? Signore!«
Montalbano war selbst erschrocken über seine Reaktion,
er fühlte sich schwach, in seinem Kopf drehte sich alles, seine
Knie waren butterweich, offenbar wirkten seine Verletzung
und die Operation noch nach. Inzwischen hatte sich eine
kleine Menschentraube um Rahman und den Commissario
gebildet. Der Professore gab ein paar Anweisungen, ein
Araber sauste davon und kam mit einem Glas Wasser zurück,
ein anderer brachte einen Stuhl und zwang Montalbano, dem
das alles äußerst peinlich war, sich hinzusetzen. Das Wasser
erfrischte ihn.
»Wie sagt man in Ihrer Sprache: Gott ist groß und
barmherzig?«
Rahman erklärte es ihm. Montalbano bemühte sich, den
Klang der Worte nachzuahmen, die Leute lachten über seine
Aussprache, wiederholten die Worte aber im Chor.
Rahman teilte sich die Wohnung mit einem älteren
Kollegen, El Madani, der gerade zu Hause war. Rahman
bereitete Pfefferminztee zu, während Montalbano die Gründe
für sein Unwohlsein erklärte. Von den beiden ermordeten
Jugendlichen, die im Crasticeddru gefunden worden waren,
wußte Rahman gar nichts, aber El Madani hatte davon gehört.
»Ich wäre Ihnen dankbar«, sagte der Commissario, »wenn
Sie mir erklären könnten, inwieweit die Dinge, die in der
Höhle lagen, auf die Sure zurückzuführen sind. Über den
Hund gibt es keinen Zweifel.«
»Der Name des Hundes ist Kytmyr«, sagte El Madani,
»aber man nennt ihn auch Quotmour. Wußten Sie, daß dieser
Hund, der Hund aus der Höhle, bei den Persern zum Wächter
des Briefgeheimnisses wurde?«
»Kommt in der Sure eine Schale voll Geld vor?«
»Nein, eine Schale kommt nicht vor, und zwar aus dem
einfachen Grund, weil die Schlafenden Geld in den
Hosentaschen hatten. Als sie aufwachen, geben sie einem von
ihnen Geld, er soll die beste Speise kaufen. Sie sind hungrig.
Aber der Abgesandte verrät sich dadurch, daß die Münzen
nicht nur ungültig, sondern auch ein Vermögen wert sind. Die
Leute wollen diesen Schatz finden und folgen ihm bis in die
Höhle. So werden die Schlafenden entdeckt.«
»Doch in dem Fall, mit dem ich mich befasse, gibt es eine
Erklärung für die Schale«, sagte Montalbano, »weil der Junge
und das Mädchen nackt in die Höhle gelegt wurden, mußte das
Geld also irgendwohin getan werden.«
»Einverstanden«, sagte El Madani, »aber im Koran steht
nicht, daß sie Durst hatten. Der Wasserbehälter gehört also,
wenn man von der Sure ausgeht, nicht dazu.«
»Ich kenne viele Legenden über die Schlafenden, aber in
keiner ist von Wasser die Rede«, fügte Rahman hinzu.
»Wie viele Personen schliefen in der Höhle?«
»Das geht aus der Sure nicht klar hervor, vielleicht spielt
die Anzahl keine Rolle: drei, vier, fünf, sechs, abgesehen von
dem Hund. Aber man geht inzwischen allgemein davon aus,
daß es sieben Schlafende waren, mit dem Hund acht.«
»Vielleicht hilft es Ihnen, zu wissen, daß die Sure eine
christliche Legende wiederaufnimmt, die Legende der
Schlafenden von Ephesos«, sagte El Madani.
»Es gibt auch ein modernes ägyptisches Drama, Ahl al-
kahf – das heißt die Leute der Höhle –, des Schriftstellers
Tafik al-Hakim. Da fallen junge Christen, die von Kaiser
Decius verfolgt werden, in tiefen Schlaf und wachen in der
Zeit Theodosius' II. wieder auf. Sie sind zu dritt und haben
einen Hund dabei.«
»Wer die Leichen in die Höhle gelegt hat«, folgerte
Montalbano, »kannte also auf jeden Fall den Koran und
vielleicht auch das Drama dieses Ägypters.«
»Signor Preside? Hier ist Montalbano. Ich rufe aus Mazara del
Vallo an und fahre gleich nach Marsala. Bitte entschuldigen
Sie, aber
Weitere Kostenlose Bücher