Commissario Montalbano 02 - Der Hund aus Terracotta
Nichts
verschwunden, und dann waren sie plötzlich wieder da. Ich
möchte gar nicht Pirandello zitieren, aber zumindest Sciascia.
Haben Sie das Buch über das Verschwinden des Physikers
Majorana gelesen?«
»Natürlich.«
»Majorana, davon bin ich genauso überzeugt wie im
Grunde Sciascia überzeugt war, wollte verschwinden, und es
ist ihm gelungen. Es war kein Selbstmord, er war sehr
gläubig.«
»Einverstanden.«
»Und
erst
kürzlich
der
Fall
des
römischen
Universitätsprofessors, der eines Morgens das Haus verließ
und spurlos verschwand. Alle haben ihn gesucht, Polizei,
Carabinieri, sogar seine Studenten, bei denen er sehr beliebt
war. Er hat sein Verschwinden geplant, und es ist ihm
gelungen.«
»Stimmt«, meinte Montalbano.
Dann dachte er über das, worüber sie redeten, nach und
sah seinen Vorgesetzten an.
»Es kommt mir vor, als forderten Sie mich auf
weiterzumachen, während Sie mir bei anderer Gelegenheit
vorgeworfen haben, ich kümmerte mich zuviel um diesen
Fall.«
»Na und? Jetzt sind Sie rekonvaleszent, damals waren Sie
im Dienst. Das ist ja wohl ein Unterschied«, erwiderte der
Questore.
Wieder zu Hause, wanderte Montalbano von Zimmer zu
Zimmer. Nach dem Gespräch mit dem Geometra war er fast
entschlossen gewesen, alles sausenzulassen, überzeugt, daß
Rizzitano längst unter der Erde lag. Und jetzt hatte der
Questore ihn wieder angespitzt. Bezeichneten die frühen
Christen mit dormitio nicht den Tod? Es war sehr gut möglich,
daß Rizzitano »sich in den Schlaf begeben« hatte, wie die
Freimaurer sagten, daß er sich zurückgezogen hatte. Aber
wenn die Dinge so standen, mußte man eine Möglichkeit
finden, ihn aus dem tiefen Brunnen, in dem er sich versteckt
hatte, hervorzulocken. Dazu brauchte es jedoch etwas
Aufsehenerregendes, etwas, das viel Staub aufwirbelte,
worüber die Zeitungen, das Fernsehen in ganz Italien
berichteten. Er mußte richtig auf die Pauke hauen. Aber wie?
Man mußte die Logik aus dem Spiel und der Phantasie freien
Lauf lassen.
Es war erst elf, zu früh, um schlafen zu gehen. Er legte
sich angezogen aufs Bett und las Wendemarke.
»Gegen Mitte der vergangenen Nacht wurde die Suche
nach der Leiche Roger Shumanns, des Rennfliegers, der am
Samstagnachmittag in den See stürzte, endgültig von einem
dreisitzigen Doppeldecker von ungefähr achtzig Pferdekräften
aufgegeben, dem es gelang, auf den See hinauszufliegen und
zurückzukehren, ohne dabei auseinanderzufallen, und einen
Blumenkranz ungefähr eine dreiviertel Meile von der Stelle
entfernt abzuwerfen, an der nach allgemeiner Annahme
Shumann liegt...»
Bis zum Ende des Romans fehlten nur noch ein paar Zeilen,
aber der Commissario saß plötzlich mitten auf dem Bett und
blickte drein wie ein Irrer.
»Es ist völlig verrückt«, sagte er zu sich, »aber ich mache
es.«
»Ist Signora Ingrid da? Ich weiß, daß es spät ist, aber ich muß
sie sprechen.«
»Signora nix da. Du sagen, ich schreiben.« Die Familie
Cardamone suchte sich ihre Hausmädchen mit Vorliebe in
Gegenden, die nicht mal Tristan da Cunha zu betreten gewagt
hatte.
»Manaò tupapaú«, sagte der Commissario. »Nix
verstehen.« Er hatte den Titel eines Bildes von Gauguin
genannt, das Mädchen kam aber offenbar nicht aus Tahiti oder
Umgebung.
»Du schreiben, ja? Signora Ingrid anrufen Signor
Montalbano, wenn wieder zurück.«
Es war schon zwei Uhr vorbei, als Ingrid nach Marinella kam,
im Abendkleid, rückenfrei bis zum Hintern. Ohne zu zögern,
war sie der Bitte des Commissario, sie sofort zu treffen,
gefolgt.
»Entschuldige, aber ich habe mich nicht umgezogen, um
keine Zeit zu verlieren. Ich war auf einem stinklangweiligen
Empfang.«
»Was hast du? Du gefällst mir nicht. Ist es nur, weil du
dich auf dem Empfang gelangweilt hast?«
»Nein, du hast schon recht. Mein Schwiegervater stellt
mir wieder nach. Gestern früh ist er in mein Schlafzimmer
geplatzt, als ich noch im Bett lag. Er wollte sofort über mich
herfallen. Ich habe gedroht, ich würde schreien, da hat er sich
wieder verzogen.«
»Dann weiß ich ja, was ich zu tun habe«, grinste der
Commissario.
»Was denn?«
»Er kriegt eine zweite Dosis verabreicht.«
Sie sah in fragend an, Montalbano schloß eine Schublade
seines Schreibtisches auf, nahm einen Umschlag heraus und
reichte ihn Ingrid. Als sie die Fotos sah, die sie zeigten,
während sie von ihrem Schwiegervater vergewaltigt wurde,
wurde sie erst blaß
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