Commissario Montalbano 03 - Der Dieb der süssen Dinge
bei Signora - oder Signorina - Clementina anzukommen? Er wandte sich um: Es war Gallo, der hinter ihm herlief. »Was ist denn?«
»Gar nichts. Ich hab' Sie gesehen, und da hab' ich Sie gerufen.«
»Wo gehst du denn hin?«
»Galluzzo hat mich von Lapecoras Büro aus angerufen. Jetzt kauf ich ein paar panini und leiste ihm Gesellschaft.« Salita Granet 23 lag der Nummer 28 direkt gegenüber, die beiden Häuser sahen genau gleich aus.
Clementina Vasile Cozzo war eine elegant gekleidete siebzigjährige Dame. Sie saß im Rollstuhl. Die Wohnung war tipptopp. Gefolgt von Montalbano, rollte sie ganz nah an ein Fenster mit Gardinen. Sie machte dem Commissario ein Zeichen, sich einen Stuhl zu holen und sich ihr gegenüberzusetzen.
»Ich bin Witwe«, begann sie, »aber mein Sohn Giulio läßt es mir an nichts fehlen. Ich bin pensioniert, früher war ich Grundschullehrerin. Mein Sohn zahlt mir eine Haushälterin, die sich um mich und die Wohnung kümmert. Sie kommt dreimal täglich, morgens, mittags und abends, wenn ich ins Bett gehe. Meine Schwiegertochter, die mich liebt wie eine eigene Tochter, kommt mindestens einmal am Tag vorbei, ebenso Giulio. Abgesehen von diesem Unfall, der vor sechs Jahren passiert ist, kann ich mich nicht beklagen. Ich höre Radio und sehe fern, aber vor allem lese ich. Da, sehen Sie!«
Sie zeigte auf zwei mit Büchern vollgestopfte Regale. Wann würde die Signora - und nicht Signorina, wie er jetzt wußte - wohl zur Sache kommen? »Es war mir wichtig, Ihnen das alles zu sagen, denn Sie sollen wissen, daß ich kein klatschsüchtiges altes Weib bin, das seine Zeit damit verbringt, andere Leute zu beobachten. Aber manchmal sieht man eben Dinge, die man eigentlich nicht sehen will.«
Das schnurlose Telefon, das die Signora auf einer Ablage neben der Armlehne liegen hatte, klingelte.
»Giulio? Ja, der Commissario ist gerade bei mir. Nein, ich brauche nichts. Bis später.«
Lächelnd sah sie Montalbano an.
»Giulio war gegen unser Treffen. Er wollte nicht, daß ich mich in Dinge einmische, die mich nichts angehen, wie er meint. Jahrzehntelang haben die anständigen Leute hier nichts anderes getan, als immer wieder zu sagen, daß die Mafia sie nichts angehe, das sei deren Sache. Aber ich habe meine Schüler gelehrt, daß das nenti vitti, nenti sacciu - ich weiß nichts, ich habe nichts gesehen - die schlimmste aller Todsünden ist. Und jetzt, wo es an mir ist zu erzählen, was ich gesehen habe, da kann ich doch nicht kneifen!«
Sie schwieg und seufzte. Signora Clementina Vasile Cozzo gefiel Montalbano immer besser.
»Bitte entschuldigen Sie, ich schweife ab. Vierzig Jahre lang habe ich als Lehrerin nichts anderes getan, als zu reden. Es ist mir zur Gewohnheit geworden. Stehen Sie auf.« Montalbano war ein braver Schüler und gehorchte. »Stellen Sie sich hinter mich und beugen Sie sich bis zu meinem Kopf herunter.«
Als der Commissario ihr so nahe war, daß man hätte meinen können, er flüstere ihr etwas ins Ohr, schob die Signora die Gardine beiseite.
Es war fast, als wäre er selbst im ersten Zimmer des Büros von Signor Lapecora, denn die Scheibengardinen waren zu dünn, als daß sie den Blick hinein verwehrt hätten. Gallo und Galluzzo aßen panini, die eigentlich halbe Brotlaibe waren. Zwischen ihnen eine Flasche Wein und zwei Pappbecher. Das Fenster bei Signora Clementina lag etwas höher als das andere, und durch einen merkwürdigen Effekt dieses Blickwinkels erschienen die beiden Polizisten und die Gegenstände im Zimmer leicht vergrößert. »Im Winter, wenn sie das Licht einschalteten, sah man besser«, erklärte die Signora und ließ die Gardine fallen. Montalbano setzte sich wieder hin. »Und, Signora, was haben Sie gesehen?« fragte er. Clementina Vasile Cozzo sagte es ihm.
Als sich der Commissario nach ihrem Bericht verabschieden wollte, hörte er, wie die Wohnungstür auf- und wieder zuging.
»Das Dienstmädchen kommt«, sagte Signora Clementina. Eine kleine stämmige Frau Anfang Zwanzig mit strengem Gesichtsausdruck trat ein und musterte den Eindringling kritisch.
»Alles in Ordnung?« fragte sie argwöhnisch. »Ja, alles in Ordnung.«
»Dann gehe ich in die Küche und setze Wasser auf«, sagte sie und ging, ganz und gar nicht beruhigt, hinaus. »Also, Signora, dann danke ich Ihnen und…«, begann der Commissario und erhob sich. »Bleiben Sie doch zum Essen.«
Montalbano fühlte, wie sein Magen ganz blaß wurde.
Signora Clementina war ja lieb und nett, aber sie
Weitere Kostenlose Bücher