Commissario Montalbano 04 - Die Stimme der Violine
argentinischen Schriftsteller, den er sehr mochte.
Als seine Augen vor Müdigkeit allmählich immer kleiner wurden, klappte er das Buch zu und löschte das Licht. Wie so oft vor dem Einschlafen dachte er an Livia. Und saß plötzlich aufrecht im Bett und war hellwach. Gesù, Livia! Er hatte sich seit der Gewitternacht, als er so getan hatte, als wäre die Leitung unterbrochen worden, nicht mehr bei ihr gemeldet. Das hatte Livia bestimmt nicht geglaubt, schließlich hatte sie seitdem nicht wieder angerufen. Das musste er auf der Stelle wieder gutmachen.
»Pronto? Wer ist denn da?«, fragte Livia mit schlaftrunkener Stimme.
»Ich bin's, Liebling, Salvo.«
»Lass mich gefälligst schlafen!«
Klick. Montalbano hielt noch eine Weile den Hörer in der Hand.
Es war schon halb neun, als er am nächsten Morgen ins Kommissariat kam; Michelas Unterlagen hatte er dabei. Nachdem Livia nicht mit ihm hatte reden wollen, war er ganz unruhig geworden und hatte kein Auge mehr zugetan. Anna Tropeano vorzuladen war nicht nötig, Fazio teilte ihm gleich mit, dass die Frau seit acht Uhr auf ihn warte.
»Hör zu, ich will alles über einen Bauingenieur aus Vigàta wissen, er heißt Aurelio Di Blasi.«
»Alles alles?«, fragte Fazio.
»Alles alles.«
»Alles alles heißt für mich auch Gerüchte, was man so redet.«
»Macari pi mia significa la stessa cosa. Das heißt es für mich auch.«
»Und wie viel Zeit habe ich?«
»Menschenskinder, Fazio, machst du jetzt einen auf Gewerkschaftsverhandlung? Zwei Stunden reichen, und das ist noch zu viel!«
Fazio musterte seinen Chef beleidigt, und als er ging, sagte er nicht mal buongiorno.
Unter normalen Umständen war Anna Tropeano bestimmt eine schöne Frau um die dreißig: tiefschwarzes Haar, dunkle Haut, große leuchtende Augen, hoch gewachsen und üppig. Doch als sie jetzt vor dem Commissario stand, ließ sie die Schultern hängen, ihre Augen waren verquollen und gerötet, der Teint leicht grau.
»Darf ich rauchen?«, fragte sie, sobald sie saß. »Natürlich.«
Sie steckte sich eine Zigarette an, ihre Hände zitterten. Sie versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen.
»Ich hatte vor einer Woche aufgehört. Aber seit gestern Abend habe ich mindestens drei Päckchen geraucht.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie von sich aus gekommen sind.
Ich habe viele Fragen an Sie.«
»Bitte.«
Innerlich seufzte der Commissario erleichtert. Anna war eine starke Frau, es würde keine Tränen und Ohnmachtsanfälle geben. Tatsache war, dass ihm diese Frau gleich gefallen hatte, als sie zur Tür hereingekommen war.
»Meine Fragen mögen Ihnen vielleicht merkwürdig vorkommen, aber ich bitte Sie, sie trotzdem zu beantworten.«
»Natürlich.«
»Verheiratet?«
»Wer?«
»Sie.«
»Nein, bin ich nicht. Und auch nicht getrennt oder geschieden. Und auch nicht in festen Händen, falls Sie das meinen.
Ich lebe allein.«
»Warum?«
Montalbano hatte sie zwar vorgewarnt, aber Anna zögerte einen Moment, eine so persönliche Frage zu beantworten.
»Ich glaube, ich hatte keine Zeit, an mich selbst zu denken.
Commissario, ein Jahr, bevor ich promovieren wollte, starb mein Vater. Herzinfarkt, er war sehr jung. Ein Jahr nach meiner Promotion verlor ich meine Mutter, ich musste mich um meine kleine Schwester Maria, die jetzt neunundzwanzig und in Mailand verheiratet ist, und um meinen Bruder Giuseppe kümmern, der in Rom bei einer Bank arbeitet und siebenundzwanzig ist. Ich bin einunddreißig.
Doch abgesehen davon denke ich, dass ich dem Richtigen nicht begegnet bin.«
Sie war nicht gereizt, sie schien sogar ein bisschen ruhiger: Dass der Commissario nicht gleich zur Sache gekommen war, hatte ihr eine Art Atempause verschafft. Montalbano hielt es für besser, ihr noch ein wenig Zeit zu lassen.
»Leben Sie hier in Vigàta im Haus Ihrer Eltern?«
»Ja, Papa hatte es gekauft. Es ist eine Art kleine Villa, direkt am Ortseingang von Marinella. Sie ist zu groß für mich geworden.«
»Ist es das Haus gleich nach der Brücke rechts?«
»Genau.«
»Da fahre ich mindestens zweimal am Tag vorbei. Ich wohne auch in Marinella.«
Anna Tropeano sah ihn etwas irritiert an. Das war vielleicht ein seltsamer Polizist!
»Arbeiten Sie?«
»Ja, ich unterrichte am Naturwissenschaftlichen Gymnasium in Montelusa.«
»Was unterrichten Sie?«
»Physik.«
Montalbano sah sie voller Bewunderung an. Als Schüler war er in Physik nie eine Leuchte gewesen: Hätte er seinerzeit so eine Lehrerin gehabt, wäre er womöglich
Weitere Kostenlose Bücher