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Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde

Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde

Titel: Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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Strauch Bocksdorn hielt. Er richtete die Ta­schenlampe darauf, sah genau hin und stieß einen Schrei aus. Er hatte einen Toten gesehen. Besser gesagt, einen Sterbenden. Der große sarazenische Olivenbaum lag vor ihm, er lag im Sterben, man hatte ihn entwurzelt und um­gestoßen. Er lag im Sterben, mit der Kettensäge hatte man ihm die Äste vom Stamm abgetrennt, der Stamm selbst war von der Axt schon schwer verwundet. Die Blätter hat­ten sich zusammengerollt und vertrockneten. Montalbano merkte verwirrt, dass er weinte, er zog den Rotz hoch, der ihm aus der Nase lief, und schluchzte und zitterte dabei wie ein kleines Kind. Er streckte eine Hand aus und legte sie auf das Helle einer großen Wunde, unter der Handfläche fühlte es sich noch ein wenig feucht an vom Pflanzensaft, der allmählich versiegte wie das Blut eines verblutenden Menschen. Er nahm die Hand von der Wunde, pflückte ein paar Blätter ab, die noch Widerstand leisteten, und steckte sie ein. Dann ging sein Weinen in blanke, gezielte Wut über.
    Er lief zum Auto, zog das Jackett aus, steckte die Taschen­lampe in die Hosentasche, schaltete das Fernlicht ein, nahm das schmiedeeiserne Gartentor in Angriff und klet­terte, dank dem Wein, der weiterhin seine Wirkung tat, wie ein Affe hinauf. Mit einem tarzanmäßigen Sprung lan­dete er im Garten, überall schlängelten sich Kieswege, alle zehn Meter eine Bank aus Kunststein, bepflanzte Ampho­ren, nachgemachte römische Krüge mit nachgemachter Meerespatina, Kapitelle von Säulen, die in Fiacca herge­stellt waren. Und der unvermeidliche, aufwändige, super­moderne Grill für die Gartenparty. Er ging zu dem halb fertigen Pavillon, suchte unter dem Arbeitsgerät einen Vorschlaghammer heraus, hielt ihn gut fest und machte sich daran, im Erdgeschoss, wo es auf jeder Seite zwei Fenster gab, die Scheiben einzuschlagen. Nachdem er sechs Fenster zertrümmert hatte, sah er, als er um die Ecke bog, eine reglose Gruppe menschlich an­mutender Gestalten. O Gott, was war das? Er holte die Taschenlampe hervor und knipste sie an. Da standen acht große Statuen beieinander und warteten darauf, vom Be­sitzer des Hauses nach seinem Gusto verteilt zu werden. Schneewittchen und die sieben Zwerge. »Wartet, ich komme gleich«, sagte Montalbano. Gewissenhaft zerschlug er die zwei verbliebenen Fenster und stürzte sich dann, hoch über dem Kopf den Vorschlag­hammer schwingend wie Roland sein Schwert, wenn er ra­send war, auf die Gruppe und schlug blindlings auf sie ein. Zehn Minuten später war von Schneewittchen, Hatschi, Seppl, Happy, Brummbär, Pimpel, Chef und Schlafmütz, oder wie zum Teufel sie auch hießen, außer bunten Brö­seln nichts übrig. Doch Montalbano war noch nicht befrie­digt. Neben dem halb fertigen Pavillon entdeckte er auch Farbspraydosen. Er nahm eine grüne und schrieb mit rie­sigen Buchstaben viermal das Wort ARSCHLOCH, einmal auf jede Seite des Hauses. Dann kletterte er wieder über das Gartentor, und als er sich ins Auto setzte und auf den Weg nach Marinella machte, merkte er, dass sein Rausch völlig vorbei war.
    In Marinella verbrachte er die halbe Nacht damit, das Haus aufzuräumen, in dem wegen der Suche nach der Emp­fangsbestätigung des Notars ein wüstes Chaos herrschte. So lange hätte das eigentlich gar nicht gedauert, aber wenn man Schubladen ausleert, findet man eben immer eine Menge alter, längst vergessener Schriftstücke, von denen manche fast mit Gewalt gelesen werden wollen, und dann stürzt man unvermeidlich immer tiefer in den Strudel der Erinnerungen, und es fallen einem sogar Sachen ein, die man jahrelang nach Kräften verdrängt hat. Erinnerun­gen treiben ein böses Spiel, bei dem man immer verliert. Gegen drei Uhr morgens ging er ins Bett, und nachdem er mindestens dreimal aufgestanden war, um ein Glas Was­ser zu trinken, nahm er die Karaffe mit ins Schlafzimmer und stellte sie aufs Nachtkästchen. Ergebnis: Um sieben Uhr morgens war sein Bauch wie mit Wasser geschwän­gert. Der Tag war trüb, und das verstärkte seinen Unmut, der wegen der schlechten Nacht sowieso schon einen kri­tischen Pegel erreicht hatte. Das Telefon klingelte, ent­schlossen nahm er ab. »Du nervst, Catare.«
    »Der bin ich nicht, Dottori, ich bin's.«
    »Wer denn?«
    »Erkennen Sie mich nicht, Dottori? Adelina sugnu.«
    » Adelina! Was gibt's denn?«
    »Dottori, ich wollte Ihnen sagen, dass ich heute nicht kom­men kann.«
    »In Ordnung, das macht.«
    »Und morgen kann ich auch nicht

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