Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
um. Sie vermutete, dass sie sich etwa auf halbem Weg zwischen der Alm und Hafling befand. Ein paar Meter vor ihr führte der Weg am Rand eines steilen Einschnitts zwischen zwei Bergrücken entlang. An der Engstelle musste ein Tobel überquert werden, der wegen der Regenfälle stark angeschwollen war und donnernd hinunter in die Senke rauschte. Das Gewässer zu überqueren, war normalerweise kein Problem, weil man flache Steine im Wasser als Tritte benutzen konnte. Lissie schätzte allerdings, dass die Querung, so wie die Wassermengen im Moment aussahen, ein ziemlicher Balanceakt werden dürfte.
Plötzlich glaubte Lissie, einen Laut gehört zu haben, und spitzte die Ohren. Aber der Tobel machte zu viel Lärm. Sie trat an den Rand des Abhangs und spähte in die Tiefe. Ungefähr zwanzig Meter unter ihr sah sie etwas Rotes liegen. Einen Anorak? Eine Hitzewelle überflutete sie. Lissie war sicher, dass da unten derjenige lag, dem die Trinkflasche gehörte.
Wie wild nestelte sie an dem Verschluss ihres Rucksacks und fand nach endlos scheinenden dreißig Sekunden ihren kleinen Feldstecher. Mit zitternden Händen setzte sie ihn an die Augen. Oh Gott, tatsächlich. Da unten lag ein Mensch. Sie konnte eine Hand erkennen, die aus einem der Anorakärmel herausschaute. Und auch einen dunklen Haarschopf. War da nicht eben eine kleine Kopfbewegung gewesen? Der Mensch lebte offenbar noch, brauchte auf jeden Fall Hilfe. Ihr brach der kalte Schweiß aus. Was sollte sie bloß machen?
Lissie zog ihr Handy hervor. Nur ein Strich Empfangsstärke. Verfluchter Mist. Sie wühlte in ihrem Anorak und zog einen Zettel mit Pavarottis Mobil- und Dienstnummer heraus. Zuerst die Mobilnummer. Oh nein, Mailbox. Fehlanzeige. Mit zitternden Fingern tippte sie die Dienstnummer ein. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich die Verbindung aufbaute. Vor lauter Nervosität lief Lissie neben dem Wasserfall auf und ab. Dann endlich »Hier … Emm… Poliz…«
»Hier ist Lissie von Spiegel, ich möchte einen Notfall melden«, keuchte sie. »Ich befinde mich auf dem Bergweg von der Leadner Alm Richtung Hafling. Hier hat es einen Unfall gegeben. Offenbar ist jemand gestürzt. Bitte kommen Sie schnell!«
»… Sie nicht verstehen … bitte wiederholen!«
Ihr Mobiltelefon sonderte krachende Töne ab. Bevor sie der Aufforderung nachkommen konnte, brach die Verbindung ab.
Lissie gab einen Jammerlaut von sich und stierte nach unten. Der Anorak rührte sich nicht. Was hatte sie denn erwartet? Dass der Verunglückte plötzlich aufstehen, sich den Dreck von den Hosen schütteln und mit einem entschuldigenden Lächeln, ihr so viele Umstände gemacht zu haben, den Berg hochklettern und ihr die Hand schütteln würde?
Es half alles nichts. Sie musste da hinunter. Zumindest konnte sie schauen, wie schwer die Verletzungen waren. Eine stabile Seitenlage würde sie auch noch irgendwie hinbekommen, sodass erst mal das Nötigste getan war, bis sie Hilfe herbeischaffen konnte.
Lissie riss ihr Plastiktäschchen mit ein paar Pflastern und Binden und ihre Wasserflasche aus ihrem Rucksack, dann packte sie beides nach kurzem Überlegen wieder ein. Sie musste den Rucksack mitnehmen, auch wenn er sie beim Abstieg behinderte. Der Verletzte würde alles an Kleidungsstücken brauchen, um warm gehalten zu werden. Auch ihr Regencape und die Isomatte konnten sich als nützlich erweisen.
Erneut trat sie an den Rand der Schlucht. Der Abhang war glücklicherweise nicht sehr steil, aber extrem geröllig. Ein falscher Tritt, und sie würde ausgleiten und sich das Bein verletzen – vom verstauchten Knöchel bis zum Beinbruch war alles drin. Außerdem konnte sie leicht eine Steinlawine in Gang setzen, die dem Verletzten da unten dann mit Sicherheit den Garaus machen würde.
Behutsam tastete sich Lissie ihren Weg nach unten, ein wenig seitlich von ihrem Ziel. Das erwies sich als überaus klug, denn mehrere größere Gesteinsbrocken lockerten sich durch ihre Tritte und kollerten zu Tal; einer passierte den Verletzten in höchstens einem Meter Entfernung. Die Steine waren nass und schlammig. An einem dieser Exemplare glitt Lissie ab. Sie stieß einen Schmerzenslaut aus und drehte ihren Knöchel vorsichtig in alle Richtungen. Glück gehabt, alles okay, dachte sie. Ihr Herz klopfte wie wild, und sie war schweißüberströmt, als sie das Gefälle endlich hinter sich gebracht hatte. Vorsichtig querte sie den Hang und kauerte schließlich, am ganzen Körper zitternd, neben der am Boden liegenden
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