Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
Gestalt.
Der Verletzte lag quer zum Hang, das Gesicht talwärts. Lissie strich ihm behutsam die schlammverschmierten Haare aus dem Gesicht. Erschrocken registrierte Lissie, dass sie einen Jungen vor sich hatte, zwölf oder dreizehn Jahre alt. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, aber es fiel ihr nicht ein, wo.
Der Kleine atmete flach. Lissie griff nach seinem Handgelenk. Der Puls war da, aber schwach. Da lief ein Zucken durch den ganzen Körper des Jungen, wie eine Welle vom Kopf bis zu den Füßen, dann lag er wieder still.
Lissie sah, dass der rechte Arm im Ellenbogen verdreht war. Offenbar beim Sturz ausgekugelt, vermutlich auch Sehnen gerissen. Vielleicht hatte der Junge auch Kopfverletzungen, den blutigen Schrammen auf seiner Stirn nach zu urteilen. Besonders stark blutete er aus einem tiefen Riss an einer Augenbraue; das Blut fing aber glücklicherweise bereits an zu gerinnen.
Mit ein paar vorsichtigen Handgriffen stellte Lissie sicher, dass der Junge stabil auf der Seite lag und frei atmen konnte. Dann hob sie ganz langsam seinen Oberkörper um ein paar Zentimeter hoch und schob mit dem Fuß die Isomatte drunter. Dabei versuchte sie, den verletzten Arm möglichst wenig zu bewegen. Auf einmal ruckten Brust und Arme des Jungen nach vorn. Er stöhnte, kam aber nicht zu Bewusstsein. Lissie verzog das Gesicht. Diese Bewegung eben musste verdammt wehgetan haben. Woher kamen diese Zuckungen?
Prüfend schaute sie den Abhang hinunter und betrachtete dann noch einmal den Verletzten. Sie musste dafür sorgen, dass er sich durch seine unkontrollierten Bewegungen nicht noch mehr in Gefahr brachte. In Lissies Reichweite lagen eine Menge Zweige und auch dickere Äste, die der Tobel mitgerissen hatte. Sie griff sich ein paar halbwegs stabil aussehende Exemplare und rammte sie unter dem Verletzten in den Boden, sodass sein Körper nicht wegrutschen konnte. Dann deckte sie den Jungen mit ihren Kleidungsstücken zu und breitete zu guter Letzt das Regencape über ihn.
Mühsam richtete sich Lissie auf. Mehr konnte sie im Moment nicht tun. Jetzt musste sie sich beeilen. Der Junge brauchte dringend ärztliche Hilfe.
Als sich Lissie wieder den Abhang bis zum Weg heraufgearbeitet hatte, hielt sie schnaufend inne und blickte zu der reißenden Strömung, die ihr den Weg versperrte, und dann nach oben in die Richtung, aus der sie gekommen war. Die Loipfertingerin hatte Telefon, was die Entscheidung deutlich vereinfachte. Sie schnallte ihren Rucksack fest und begann, bergaufwärts zu rennen.
Nach ein paar Minuten lief ihr der Schweiß über Rücken und Stirn. Mehr als ein T-Shirt trug sie nicht mehr, und es war klitschnass und klebte eisig kalt an ihrem Oberkörper. Lissie dachte an ihr weiches Bett im Hotel Felderer, in dem sie sich jetzt wohlig rekeln könnte, wenn sie nicht die leidige Angewohnheit hätte, ihre Nase in die Angelegenheiten fremder Leute zu stecken.
Da fiel ihr wieder ein, wo sie den Jungen schon mal gesehen hatte. Er hatte ihr an ihrem ersten Morgen in Meran das Frühstück gebracht.
* * *
Ein paar Stunden später saß Lissie in der Badewanne und bis zum Hals im Wasser, das inzwischen eine erträgliche Temperatur hatte. Eine Stunde zuvor hatte es mindestens hundert Grad gehabt, jedenfalls gefühlt. Lissie hatte beim Eintauchen laut aufgeschrien und sich vorgenommen, künftig auf den Genuss von Hummer zu verzichten.
Ihr Körper war nach dem Rettungseinsatz stark unterkühlt gewesen. Ohne viel Federlesens zu machen, hatte die Loipfertingerin sie mitsamt ihrer Klamotten in die Wanne gesteckt. Danach hatte die Frau ihr eine dampfende Tasse Tee an die Lippen gesetzt.
Inzwischen hatte das Bibbern im Oberkörper aufgehört. Sie drehte den Warmwasserhahn noch einmal voll auf und lehnte sich zurück. Dann hob sie beide Beine nacheinander aus dem Wasser und bewegte probeweise die Zehen. Eine Amputation schien nicht notwendig zu sein. Alle zehn prickelten höllisch und fühlten sich höchst lebendig an. Lissie musste husten. Ob sie vielleicht eine Lungenentzündung bekam? Zumindest war ihre Aktion nicht umsonst gewesen.
Der Rettungshubschrauber hatte auf einer nahe gelegenen Almwiese landen können. Lissie war mit den beiden Männern von der Meraner Bergwacht noch einmal abgestiegen, um ihnen die Stelle zu zeigen, wo der Verunglückte lag.
Sie staunte nicht schlecht, als die beiden auf den ersten Blick nicht besonders durchtrainierten Männer mittleren Alters sie, Lissie, die Bergziege, ohne Mühe abhängten. Die
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