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Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman

Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman

Titel: Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Florin
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zum Reden bringen, und zwar pronto, denn wir schließen in anderthalb Stunden.« Sie drehte sich um und verschwand durch eine Tür mit der Aufschrift »Verwaltung«.
    Unschlüssig stand Lissie da. Dann dachte sie, was soll’s, der Versuch kostet nichts. Sie durchquerte den Lesesaal. Als sie sich dem einsamen Leser näherte, sah sie, dass es sich um einen dünnen Mann mittleren Alters handelte. Lissie schätzte ihn auf Ende fünfzig. Mit seinen langen, grazilen Fingern ergriff der Mann eine Buchseite und blätterte behutsam um. Dann strich er noch einmal über die umgeblätterte Seite. Nicht nur ein Hobbyhistoriker, sondern auch ein Bücherliebhaber, dachte Lissie. Sie räusperte sich. Der Mann hob den Kopf und schaute sie erwartungsvoll an.
    »Äh, hm, entschuldigen Sie«, hob Lissie etwas stotternd an und verfluchte sich wegen ihrer plötzlichen Unbeholfenheit. Sie merkte, dass sie sich mit diesem Mann schwertat, der so sanft und verletzlich aussah.
    »Entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach anspreche«, sagte sie dann und lächelte den Mann an. »Die Bibliothekarin hat mich auf Sie aufmerksam gemacht. Ich suche jemanden, der mir einen kurzen Abriss über die Südtiroler Geschichte gibt, eine Art Zusammenfassung.« Fast hätte sie Executive Summary gesagt, konnte sich aber gerade noch beherrschen. »Weil ich keine Zeit habe, das alles zu lesen«, fügte sie an und machte eine Handbewegung, mit der sie die umstehenden Regale einschloss. Dann biss sie sich auf die Lippen. Das hatte wieder ziemlich arrogant geklungen.
    Doch der Mann nickte, als sei ihm das gar nicht aufgefallen. Er schwieg aber weiter beharrlich und schaute wieder auf sein Buch hinunter. Lissie zog sich einen Stuhl heran und beschloss, noch einen Versuch zu starten.
    »Was lesen Sie denn da?« Oh Gott, noch platter ging es ja wohl kaum.
    Der Mann reagierte nicht, sondern fuhr mit dem Finger über die Seite, als ob er sich erst wieder darüber klar werden müsse, was er da las. »Wissen Sie, was der Brenner ist?«, fragte er plötzlich, ohne aufzusehen.
    Lissie war verblüfft. »Was? Ja, der Brenner, da fängt Italien an«, begann sie, wurde aber von dem Mann mit scharfer Stimme unterbrochen.
    »Falsch! Der Brenner, das ist die willkürlichste Grenze der Welt!«
    »Aber …«, meinte Lissie, wurde jedoch nicht beachtet.
    »Sie fahren nach Südtirol und wissen überhaupt nichts? Die Brennergrenze war ein Preisgeld. Sie wurde nach Ende des Ersten Weltkriegs 1919 im Friedensvertrag festgelegt. Die Italiener bekamen ihr Blutgeld für ihren Kriegseintritt 1915 an der Seite der Entente ausgezahlt.« Er hielt kurz inne. »Wilson, dieser Heuchler.«
    Lissie war verblüfft. »Meinen Sie den amerikanischen Präsidenten?«
    Ihr Gesprächspartner hob den Kopf und sah sie mit Verachtung an. »Lügner sind sie alle, die Politiker, einer wie der andere. Wilson war einer der schlimmsten. Gepredigt hat er das Recht auf Selbstbestimmung der Völker! Und was macht er? Dafür gesorgt hat er, dass Italien Südtirol bekam, ein Gebiet, das seit mehr als fünf Jahrhunderten zu Österreich gehört hat und zu neunundneunzig Prozent deutschsprachig gewesen ist! Reicht Ihnen das schon als kurze Zusammenfassung?«
    Lissie kam sich plötzlich ungebildet und klein vor. Sie hatte den Mann falsch eingeschätzt. So verletzlich klang der nicht mehr. Im Gegenteil, sein Tonfall war beißend sarkastisch gewesen. Als ob der Mann das Ende der Unterhaltung markieren wollte, klappte er sein Buch zu. Es kam mit der Vorderseite auf dem Tisch zu liegen; Lissie konnte nur einen Satz lesen, der auf dem Buchrücken gedruckt war: »Happy End mit Blut und Tränen?«
    Lissie beschloss, seine beleidigende Art zu ignorieren und nachzufassen. »Ist denn dieser Friedensvertrag die Ursache für die Südtirolfrage?« Ihr war eingefallen, dass ihr Vater dieses Wort öfter benutzt hatte.
    »Südtirolfrage«, schnappte der Mensch, von dem sie nur den Vornamen Peter kannte. »Wie nett und verharmlosend das klingt, Südtirolfrage. Als ob es auf die Frage eine einfache und harmlose Antwort gäbe. Ha!«
    Provozieren. Das wirkt immer. »Und wenn schon, dann kam Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg eben zu Italien. Damals wurde die Welt neu aufgeteilt. Das ist auch anderen passiert, beispielsweise dem Elsass. Die kamen zurück nach Frankreich, und viele Deutsche haben damals alles verloren. Soweit ich weiß, haben die dann auch nicht mit Bomben um sich geschmissen, oder?«
    Der Mann wurde blass, und Lissie erwartete,

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