Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
«Wie bitte?»
Tron holte tief Atem.
«Der Mörder ist immer noch frei. Er hat gestern Nacht
versucht, eine Frau zu töten.»
Für einen Mann,
dessen Träume sich eben in Luft aufgelöst hatten und dem
ein unangenehmes Gespräch mit seiner Gattin bevorstand, war
Spaurs Reaktion bemerkenswert gelassen. Er zog eine Flasche Grappa
und ein Glas aus der Schublade seines Schreibtisches, schenkte sich
ein und trank. «Erzählen Sie.»
Als Tron mit seinem
Bericht zu Ende gekommen war, hatte Spaur drei weitere Grappe
getrunken und die Demel-Schachtel geleert. Sein Schreibtisch war
mit kleinen Papierstücken übersät, in denen die
Pralinen eingewickelt waren. «Wo ist das alles
passiert?»
Tron war sich sicher,
dass er den Namen der Kirche erwähnt hatte. «In San
Giovanni in Bragora», sagte er. «Der Täter hatte
offenbar einen Schlüssel. Pater Hieronymus vermutet, dass er
ihn aus der Sakristei gestohlen hat.»
Spaur machte ein
überraschtes Gesicht. «Sagten Sie Pater
Hieronymus?»
Tron nickte. Den Namen
des Priesters hatte er ebenfalls schon erwähnt. Er fragte
sich, ob Spaur ihm überhaupt zugehört hatte.
Der überraschte
Gesichtsausdruck Spaurs hatte sich noch verstärkt. «Der
Mann, der wie ein Gelehrter auftritt und Veneziano wie ein
Einheimischer spricht?»
«Und der eine
Katze hat, die wie ein Löwe aussieht», sagte Tron.
«Wieso? Stammt er etwa gar nicht aus
Venedig?»
«Nein, er kommt
aus Wien», sagte Spaur, «und ist seit 1848 in Venedig.
Damals hat er auch seinen Beruf gewechselt. Und seinen
Namen.»
Tron runzelte die
Stirn. «Was war er vorher?»
«Ein
kaiserlicher Offizier», sagte Spaur. «Leutnant Holenia
im Dragonerregiment Maria Isabella.»
Tron brauchte ein paar
Sekunden, um zu begreifen, was Spaur gerade gesagt hatte.
«Also war Pater Hieronymus im selben Regiment wie
...»
Spaur nickte.
«Wie Stumm von Bordwehr.»
«Der Oberst
könnte den Pater besucht haben, und dabei könnte er den
Schlüssel entwendet haben.»
Spaur verdrehte die
Augen. «Nachdem er sich gesagt haben könnte, dass er auch mal in
einer Kirche einen Mord begehen könnte ?
Das sind zu viele Könnte, Commissario! Ich
weiß nicht einmal, ob die beiden zur selben Zeit im Regiment
waren. Vielleicht sind sie sich ja nie begegnet.»
«Es
wäre», sagte Tron, «nicht die einzige Spur, die zu
Stumm führt. Wir konnten inzwischen die Tote an den Zattere
identifizieren. Sie ist am vorletzten Sonntag im Nachtzug von
Verona nach Venedig ermordet worden. In einem Zug, den auch der
Oberst benutzt hat.»
Spaur schüttelte
den Kopf. «Sie hatten zuerst eine Spur, die zu Grassi
führte, und dann eine, die zu Zuckerkandl führte.»
Der Polizeipräsident lockerte seinen Kragen mit der fahrigen
Bewegung eines Mannes, der kurz vor einem Nervenzusammenbruch
steht. «Nein, Commissario. Ich glaube nicht mehr an Ihre
Spuren. Hier handelt es sich um einen Wähnsinnigen. Nicht um
einen kaiserlichen Offizier.»
Spaur stand auf, ging
schwankend zum Fenster, öffnete es und holte ein paarmal tief
Luft. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, stellte er die
entscheidende Frage. «Wird der Mann wieder zuschlagen? Oder
ist er auf der Flucht?»
«Das hat mich
Bossi auch gefragt», sagte Tron.
«Was haben Sie
geantwortet?»
«Dass er wieder
zuschlagen wird.»
«Und
warum?»
«Weil er eitel
und verrückt ist», sagte Tron. «Und weil er
weiß, dass wir nicht hinter jede mammola einen Polizisten stellen
können.»
29
Das Kleid war aus
grünlich changierender Seide und hatte ein mit winzigen Perlen
besetztes Oberteil, das im Schein der Petroleumlampen
verführerisch funkelte. Es hing über einer
samtüberzogenen Schneiderpuppe im Schaufenster von Petrucci.
Direkt neben dem Café Quadri gelegen, war Petrucci das Modegeschäft
Venedigs. Jedenfalls, dachte Carla Dolci, wenn man das nötige
Kleingeld hatte.
Hinter der
Schneiderpuppe war ein niedriger Vorhang angebracht; durch ihn
hindurch konnte sie ein elegantes Paar sehen, das gerade mit einem
der Angestellten verhandelte. Die Dame lachte, und Carla Dolci
fragte sich, ob auch sie eines Tages bei Petrucci einkaufen und mit
dem Verkäufer scherzen würde. Sie schätzte, dass sie
mindestens ein Jahr lang arbeiten müsste, um sich ein solches
Kleid wie im Schaufenster kaufen zu können. Was bedeutete,
dass sie es sich nie leisten konnte.
Sie trat zur Seite, um
einer Dame und einem Herrn Platz zu machen, die sich dem
Schaufenster von Petrucci genähert hatten. Als sie sich
umdrehte, traf ihr Blick den
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