Commonwealth-Saga 3 - Der entfesselte Judas
morgens um zwei im Olika District unterwegs war. Er war dankbar dafür, dass bisher kein Streifenwagen vorbeigekommen war, auch wenn das nur eine Frage der Zeit sein konnte. Olika war eine Gegend, wo eine Menge reicher Leute wohnte. Sie hatten allerbeste Beziehungen zur Verwaltung von Darklake City. Die Polizei war ständig präsent in dieser Gegend, nicht wie im Tulosa District, wo Roderick wohnte. Dort sah man nach Einbruch der Dunkelheit nur selten einen Cop, und regelmäßig schon gar nicht.
»Ist es das?«, fragte Marlon Simmonds.
Roderick hatte im Laufe der Jahre bereits oft mit Marlon zusammen gearbeitet. Nichts wirklich Ernstes – man konnte sie nicht wirklich als Partner bezeichnen –, doch sie hatten ihren Teil an Straßenräubereien erlebt, gefolgt von einer Serie von Einbrüchen, als sie Ende der Sechziger mit den Usaros herumgezogen waren. Danach hatten sie für einen Raubüberfall auf das Marina Mall Kaufhaus im Jahr 73 zusammen gesessen, der gründlich schief gegangen war. Nach ihrer Entlassung hatten sie angefangen, für Lo Kin zu arbeiten, einen kleinen Gangsterboss, der auf der Westside von Tulosa Schutzgelder erpresste, und dort waren sie geblieben. All die gemeinsamen Erfahrungen und das gewachsene, gegenseitige Vertrauen machten sie zu einem perfekten Team für diesen Job.
»Was steht auf dem beschissenen Schild?«, fragte Roderick leise zischend.
»1800«, las Marlon genauso leise vor, während er auf die Messingnummern starrte, die in den Drycoral-Bogen über dem Tor eingelassen waren. Das war das Gute an Marlon: Nichts schien ihn wirklich aus der Ruhe zu bringen. Sein biochemisch aufgerüsteter Körper wog wenigstens doppelt so viel wie Roderick und bewegte sich mit der Trägheit eines Zwanzigtonners. Marlons allgemeines Verhalten war ein Spiegelbild dieser äußerlichen Erscheinung. Er wusste, dass er sich durch dieses Leben treiben lassen konnte und dass es nur sehr wenig gab, das sich ihm in den Weg stellen würde.
»Dann sind wir richtig, oder?«, fragte Roderick. Der Mann, ein Partner von Lo Kin und ihr derzeitiger Auftraggeber, war sehr spezifisch gewesen. Die Hausnummer, der Name des Mannes, mit dem sie reden sollten, die knapp bemessene Zeitspanne, die sie hatten, um ihren Job zu erledigen.
»Okay, Mann.« Marlon zog eine harmonische Klinge aus seiner Jackentasche und durchschnitt das geschmiedete Eisen um das Schloss herum. Das Tor schwang mit einem kaum hörbaren Quietschen auf. Roderick wartete sekundenlang, um herauszufinden, ob ein Alarm ausgelöst worden war, doch es gab keinerlei Geräusch. Als er mit der linken Hand um das Tor herum tastete, meldete sein E-Butler, dass er keinerlei elektronische Aktivität entdecken könne. Roderick grinste in sich hinein. Es hatte eine Menge gekostet, sich den OCTattoo-Sensor in die Handfläche implantieren zu lassen, doch jedes Mal, wenn er ihn benutzte, wusste er, dass er das Geld richtig angelegt hatte.
Es war dunkel im Garten vor dem Bungalow. Die hohe Mauer aus Drycoral blockierte den größten Teil des Lichts von den Straßenlaternen draußen, während das niedrige Gebäude unbeleuchtet war. Roderick schaltete sein Retinaimplantat auf Infrarot. Es produzierte ein einfaches grau-rotes Bild, das eigenartig zweidimensional wirkte. Dieser Mangel an Tiefeneindruck verlangsamte ihn jedes Mal – eines Tages würde er sich ein zweites, passendes Implantat für das andere Auge zulegen, was ihm endlich eine vernünftige Auflösung in diesem Spektrum verschaffen würde. Vielleicht sogar schon von dem Geld, das er für diesen Job bekam – Lo Kins Partner zahlte bestimmt gut.
Rodericks Hand glitt ins Innere der Lederjacke und zog die Eude606 Ionenpistole aus dem Holster. Die Waffe passte wie angegossen in seine Hand, und das war auch gut so. Er hatte noch nie ein so teures Stück Hardware gehalten wie dieses. Es fühlte sich einfach gut an. Die Macht, die in der Waffe steckte, verlieh Roderick ein Gefühl von Zuversicht, wie er es nicht oft erlebte.
Marlon schnitt das Schloss aus dem Holz der Vordertür. Roderick entdeckte auch hier keinerlei elektrische Aktivität. Es stimmte also, was man ihnen gesagt hatte: Paul, der alte Mann, der hier wohnte, war so exzentrisch, dass es an nackten Wahnsinn grenzte. Vorsichtig betraten sie den dunklen Flur.
»Was machst du denn?«, flüsterte Roderick. Marlon bewegte sich an den Regalen entlang und untersuchte die Vasen und Figuren in den Fächern.
»Du hast doch gehört, was der Mann gesagt hat.
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