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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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sagen, und der Beißer natürlich auch nicht so recht reden konnte – obwohl er mit tiefer, knirschender Stimme etwas zu murmeln schien: »Ihr wollt also das Ohr von Roger Comstock? Dann bekomme ich das Eure .«
    Eigenartigerweise erregte erst die Tatsache, dass Roger aufstand, allgemeine Aufmerksamkeit. Dann wurde schlagartig das ganze Lokal des Vorfalls gewahr.
    »In Gottes Namen, Sir!«, schrie Ellis und sackte gegen die getäfelte Wand. Der Rothaarige ließ nicht von ihm ab, blieb ihn in verbissen wie eine Bulldogge, und seine Kiefer mahlten, um den Knorpel zu durchtrennen. Er stemmte die Hände zu beiden Seiten von Ellis’ Kopf gegen die Wand und hielt ihn so in Position. Mehrere Whigs im Schankraum traten schließlich vor, um einzugreifen – doch der Gentleman, der sich zuvor mit dem Beißer unterhalten hatte, wirbelte zu ihnen herum und zog seinen Degen halb aus der Scheide. Das trieb sie zurück wie ein Knallfrosch.
    Roger trat auf den Beißer und den Gebissenen zu und hob den Arm, welcher der Wand näher war, sodass sein Umhang sich ausbreitete und Daniel die Sicht auf die weiteren Vorgänge verdeckte. Er schien den Beißer auf den Rücken der einen, gegen die Wand gestemmten Hand zu klopfen. »Mr. White«, sagte er mit nachsichtiger Stimme, »bitte wischt Euch das Kinn ab, wenn Ihr fertig seid.« Dann ging er um die beiden herum und verließ das Kaffeehaus. Andrew Ellis fiel mit einem Schrei zu Boden und presste sich beide Hände an die Schläfe. Mr. White warf triumphierend den Kopf hoch wie ein Bauernjunge, der gerade beim Apfelschnappen gewonnen hat. Etwas, das einer getrockneten Aprikose glich, klemmte in seinem Lächeln. Er pflückte es mit einer Hand heraus, um es zu bewundern. Andrew Ellis lag vor den Schienbeinen und Knien von Mr. White und drückte sie nach hinten, sodass dieser die andere Hand weiter gegen die Täfelung stemmen musste, um nicht vornüberzufallen. Jedenfalls steckte er Ellis’ Ohr ein und bedachte Daniel mit einem blutigen Grinsen.
    »Willkommen in der Politik, Mr. Waterhouse«, verkündete er. »Das ist die Welt, die Ihr geschaffen habt. Freut Euch und seid dankbar dafür – denn man wird Euch nicht erlauben, sie zu verlassen.«
    »Ich habe größere Bewegungsfreiheit als Ihr, Mr. White«, sagte Daniel im Hinausgehen und machte eine Kopfbewegung zu der Hand hin, die Mr. White gegen die Wand stemmte.

    Mr. White schien jetzt erst zu bemerken, dass man ihm einen Dolch durch diese Hand gestoßen hatte: zwischen den Mittelhandknochen hindurch, zum Handteller hinaus und tief in die Holzwand hinein. Gleichsam wie eine Visitenkarte mit Silberbuchstaben in den Knauf des Dolches eingearbeitet waren die Initialen R.C.
     
    Draußen auf der Straße angelangt, stellte Daniel fest, dass seine Hand in seine Tasche gefahren war, die Perle von unschätzbarem Wert gepackt und sie so lange so fest gedrückt hatte, dass seine Finger müde geworden waren. Der Stein hatte in etwa die Form eines Teufelskopfes mit zwei Stummelhörnchen, die einmal in seinen Harnleitern gesessen hatten. Daniel hatte die Angewohnheit, ihn so zu ergreifen, dass die beiden winzigen Erhebungen zwischen seinen Knöcheln hervorstanden – er passte fast so gut in seine Hand, wie er in seine Blase gepasst hatte.
    Als er am nächsten Tag in einer geliehenen Kutsche durch Hertfordshire fuhr, stellte er fest, dass seine Hand erneut dorthin gewandert war, während er den Ohrbiss noch einmal Revue passieren ließ. Daniel dachte über Feigheit nach. Er kannte viele Feiglinge und sah überall Feigheit, doch genau wie Mr. Flamstedts Beobachtungen der Sterne häufig vom Wetter wurden auch Daniels Beobachtungen der Feigheit häufig von mildernden Umständen verdunkelt. So mochte ein Mann seine Feigheit erklären, indem er sagte, dass er eine Familie zu ernähren habe, oder, falls das nicht zutraf, mit dem schlichten Argument, dass es einfach nicht gerecht sei, wenn ein junger Mann Leben oder Glied lassen müsse. Aber Daniel hatte weder Weib noch Kinder, und die Aufgabe, die Großfamilie zu ernähren, erledigte Bruder Sterling vorbildlich. Außerdem war Daniel nicht nur alt (siebenundvierzig), sondern müsste inzwischen von Rechts wegen längst tot sein und verdankte die ihm verbliebenen Jahre einzig und allein Mr. Hookes erbarmungsloser Arbeit mit dem Skalpell. Bei Daniel Waterhouse könnte ein Beobachter somit die Feigheit in ihrer Reinform sehen und vielleicht etwas über ihr Wesen lernen.
    Auf der Bank neben Daniel lag ein kurzer

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