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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Brief von Roger Comstock; er hatte ihn heute Morgen in der Kutsche vorgefunden. Lieber Daniel, lautete er,
    verzeiht mir meinen überstürzten Aufbruch aus Mrs. Blighs Kaffeehaus gestern Abend. Wie Ihr mittlerweile sicher erkannt habt,
war der ganze Vorfall eine Maskerade, eine Bagatelle. Lasst Euch von Mr. Whites Vulgaritäten nicht Euer Urteilsvermögen trüben.
    Euer Kutscher ist Mr. John Hammond, und ich habe ihn beauftragt, Euch überallhin zu fahren, wo Ihr es wünscht, bis Euer Auftrag erledigt ist; doch ich habe ihn glauben gemacht, der größte Teil Eurer Wanderungen beschränke sich auf das Dreieck, das von London, Cambridge und Mr. Apthorps Landhaus gebildet wird. Wenn Ihr es für notwendig erachtet, nach John O’Groats oder Land’s End zu eilen, so bringt es ihm bitte schonend bei.
    Euer sehr gestrenger,
    (unterzeichnet mit einem zwei Zoll hohen Schnörkel)
    Ravenscar
    PS Ich scheine meinen Dolch verloren zu haben – habt Ihr ihn gesehen?
    Roger war von jeder Spur von Feigheit völlig frei. Ängstlich mochte er sein, aber ein Feigling? Niemals. Eine Bagatelle. Er hatte es völlig aufrichtig gemeint, als er es so genannt hatte.
    In dem düsteren, schwankenden Fahrzeug konnte Daniel unmöglich lesen, und er hatte niemanden, mit dem er sich unterhalten konnte, deshalb waren Schlafen und Nachdenken sein einziger Zeitvertreib auf der langen Fahrt durch den Regen nach Cambridge. Während er seine Angst vor Mr. White (die der Angst, die er früher vor Jeffreys empfunden hatte, sehr ähnlich war) damit verglich, wie er einst im Hinblick auf den Stein empfunden hatte, der nun in seiner Tasche steckte, kam ihm eine neue Hypothese über die Feigheit in den Sinn. Der Stein hatte ihn traurig gemacht, ihn gegen das Sterbenmüssen aufbegehren lassen, ihm Angst eingeflößt – aber seine Angst davor war nichts gewesen im Vergleich mit seiner Angst vor Jeffreys und nun vor White. Dabei hatten diese Männer nur drohende Worte gegen ihn geäußert. Selbst die animalische Angst, von der er gepackt worden war, als Hooke das Skalpell zwischen seinen Oberschenkeln angesetzt hatte, war nichts gewesen im Vergleich mit der Furcht vor Mr. White, die ihn die ganze letzte Nacht wachgehalten hatte.
    Der einzige Unterschied, der ihm einfiel, war, dass Hooke ihn mochte und White ihn hasste. Konnte es also sein, dass Daniels wahre Feigheit darin bestand, dass er es nicht ertragen konnte, wenn Leute schlecht von ihm dachten?
    Das wäre allerdings eine seltsame Erscheinungsform der Feigheit.
Aber sie entsprach Daniels bisherigen Erfahrungen. Sie fasste Daniels Biographie in einem Satz zusammen. Außerdem war es vielleicht auch so, dass es bestimmte Männer wie Jeffreys und White gab, die sich darauf verstanden, diesen speziellen Typus von Angst zu entdecken, und gelernt hatten, ihn zu kultivieren und gegen ihre Feinde zu verwenden. Mr. John Hammond, der Kutscher, hatte eine lange Peitsche und benutzte sie häufig, schlug aber die Pferde nie richtig damit. Vielmehr ließ er sie um die Köpfe seines Gespanns in der Luft knallen und benutzte die Angst der Tiere, um sie anzutreiben.
    Als er Jeffreys in den Tower und zu seiner Begegnung mit Jack Ketch auf dem Schafott geschickt hatte, hatte Daniel sich eingebildet, er habe einen Drachen getötet und mit diesem Teil seines Lebens abgeschlossen. Doch nun war aus dem Nichts Mr. White aufgetaucht. Ein beunruhigender Bursche! Noch viel beunruhigender aber war, was dies alles zu bedeuten hatte, nämlich dass es auf der Welt mehr als einen Drachen gab – dass sie davon wimmelte – und dass jemand, der sich vor Drachen fürchtete, seine Tage zwangsläufig damit hinbringen musste, sich wegen des einen oder anderen Sorgen zu machen.
    Dies alles war von entscheidender Bedeutung, denn wenn er Isaac – wo immer sich dieser befand – aufgespürt hatte, würde er nicht tun können, was getan werden musste, ohne zuerst seine Angst zu bezwingen.
     
    Wie sich herausstellte, hatte er in Cambridge keinen Anlass, sie zu bezwingen. Er traf so rechtzeitig im Trinity College ein, dass er sich in einer der Gästekammern waschen und ein kurzes Nickerchen halten konnte. Dann, als die Glocke ertönte, warf er sich einen Talar über, ging zum Speiseraum und setzte sich an den hohen Tisch. Dem Kopfende ziemlich nahe, wie sich herausstellte: Denn Schlaganfälle und Pocken sorgten dafür, dass er mit jedem Monat, der verstrich, im Rang nach oben rückte. Man bezeigte ihm Respekt und sogar Zuneigung. Er verstand

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