Confusion
mit dem Doktor unterhielt und auf sie und Jack herabstarrte; doch jetzt war der Balkon verlassen, ein Stillleben aus staubigen Fensterscheiben, verblichenen Vorhängen und von Moos überzogenem Stein.
Der Mann hatte begonnen, in gemütlichem Singsang zu deklamieren. Eliza konnte nur wenig Deutsch. Sie sah Caroline an, die erklärte: »Er liest aus einem Märchenbuch vor.«
Dem Geräusch dieser Stimme folgend, suchte sich Eliza einen Weg zwischen den staubigen Waren hindurch, bis sie den Steinfußboden der umlaufenden Galerie betrat. Von den bancas waren viele weggeschafft worden. Ein paar Schritte entfernt hockte ein massiger Mann auf einer schwarzen Kassette, die mit zahlreichen Metallbändern und Haspen versehen war; aber keine davon war verschlossen, was für Eliza den Gedanken nahelegte, dass sie womöglich leer war. Der Mann hatte ein großes, illustriertes Märchenbuch aufgeschlagen auf einem Oberschenkel liegen. Auf dem anderen saß der kleine blonde Indianer, der mit dem Kopf an der Brust des Mannes lehnte und eine Ecke seines Lendenschurzes hochgezogen hatte, um daran zu kauen. Seine dünnen Beine hingen rechts und links vom Oberschenkel des Mannes herab. Die Mokassins baumelten träge durch die Luft. Seine Augen hatten einen abwesenden Ausdruck angenommen, und die Lider begannen sich zu senken. Er schaute kurz zu Eliza auf, als sie in sein Blickfeld trat, verlor aber gleich wieder das Interesse und wandte sich seinen Träumen zu. Für ihn war das Auftauchen der fremden Frau im Hof des Hauses eine Ablenkung und eine Beunruhigung gewesen, aber nur für kurze Zeit, nur so lange, bis »Papa« ihm gesagt hatte, dass alles in Ordnung sei. »Papa«, der Lothar von Hacklheber
war, las weiter die Geschichte vor – aber nicht, dachte Eliza, aus dem gekünstelten Bemühen heraus, sie zu ignorieren, sondern weil kein Elternteil, der die Spielregeln kennt, eine Geschichte unterbricht, wenn ein Kind gerade zur Ruhe gekommen ist und langsam in den Schlaf hinübergleitet. Eine Goldrandbrille mit Halbgläsern saß auf Lothars von Kratern übersäter Nase, und wenn er das Ende einer Seite erreichte, leckte er einen Finger an, blätterte um und blickte kurz mit milder Neugier zu ihr auf. Die Lider des Jungen senkten sich immer tiefer, und von dem Lendenschurz gelangte immer mehr in seinen Mund, der daran nuckelte – ein Anblick, der einen Schmerz in Elizas Brüsten hervorrief, als sie sich daran erinnerten, wie es gewesen war, Milch zu geben. Gleich darauf klappte Lothar das Buch zu und sah sich nach einer Stelle um, wo er es ablegen konnte – woraufhin Caroline angelaufen kam und es ihm aus der Hand nahm. Er legte den kräftigen Arm fester um die Brust des Jungen, lehnte sich zurück, sodass sein Körper so etwas wie eine große, gepolsterte Liege bildete, und rappelte sich irgendwie hoch. Er wandte den Besuchern den Rücken zu, tapste auf nackten Füßen durch eine Tür und legte den Jungen in eine Art improvisierte indianische Hängematte, die quer durch ein unbenutztes Kontor gespannt war. Nachdem er einige Decken über das Kind gebreitet hatte, richtete er sich auf, kam in die Galerie zurück und zog die Tür hinter sich zu – ließ sie allerdings einen Spaltweit offen, damit er es, wie Eliza, die Mutter, wusste, hören konnte, falls der Junge weinte.
»Ich hatte die Nachricht erhalten, dass der Kurfürst und seine Hure gestorben sind«, sagte Lothar sanft auf Französisch, »und mich gefragt, ob mir vielleicht auch ein Besuch des Großen Schnitters bevorsteht.«
Auf einer Bank am Rande des Hofes lag eine Auswahl von Waffen, ungeordnet, als ob er und der Junge das Fechten geübt hätten. Lothar griff nach einem Dolch in einer Scheide und warf ihn mit der gleichen Bewegung Eliza zu, die ihn aus der Luft fing. »Das Hashishin- Stilett, das Ihr in der Schärpe Eures Kleides verborgen habt, ist zu klein, um einen von meiner Größe einigermaßen rasch zu erledigen; bitte benutzt stattdessen das hier.« Er trug ein Leinenhemd, das schon eine ganze Weile nicht mehr gewechselt worden war; nun riss er es über seiner linken Brustwarze auf. »Ungefähr hier, das müsste es tun. Vielleicht schickt Ihr zuerst die Prinzessin von Brandenburg-Ansbach hinaus, wenn Ihr ihre empfindlichen Augen vor einem so grässlichen Anblick bewahren möchtet; wenn Ihr dagegen die Absicht habt, sie zu
jemandem wie Euch selbst zu erziehen, dann lasst sie unbedingt zusehen und lernen.«
»Bis zu diesem Moment war ich der Überzeugung, dass die
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