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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Kunst des Maskenspiels am Hofe des Sonnenkönigs zu höchster Vollendung entwickelt worden ist«, sagte Eliza mit leiser Stimme, um den Jungen nicht zu wecken. »Doch nun sehe ich, dass Ihr so viel davon versteht wie nur je ein Mensch. Was für ein Gemüt denkt sich ein Schauspiel aus, wie ich es eben zu Gesicht bekommen habe?«
    »Was für ein Gemüt«, antwortete Lothar, »dringt in das beschauliche Heim eines Menschen ein und denunziert es dann als Schauspiel? Das hier ist die Welt, Madame, es ist nicht Versailles; wir sind hier nicht so verschlagen, so abstrus.«
    Eliza warf den Dolch auf den Boden. »Ihr, die Ihr einen Säugling entführt habt, solltet Euch nicht anmaßen, seiner Mutter den Katechismus zu predigen.«
    »Wenn ein Waisenkind, das von Fremden großgezogen wird, in eine Familie gebracht wird, die es liebt, verdient das dann den Namen Entführung? Es erscheint mir eher wie das Gegenteil einer Entführung. Wenn Ihr jetzt verkündet, dass Ihr seine Mutter seid, neige ich dazu, Euch zu glauben, denn es besteht eine deutliche Ähnlichkeit; aber es ist das erste Mal, dass Ihr es zugegeben habt.«
    »Ihr wisst ganz genau, dass es mich vernichtet hätte, wenn ich es damals zugegeben hätte.«
    Lothar drehte sich seinem Hof zu und hob beide Hände. »Seht!«
    »Was soll ich sehen?«
    »Ihr sprecht vom Vernichtetwerden als etwas Abstraktem, etwas, worüber Ihr gelesen habt, einem Phantom, vor dem Ihr Euch fürchtet, wenn Ihr nachts im Bett liegt. Gebt Euch nicht mit Abstraktionen und Phantomen zufrieden, Madame. Betrachtet stattdessen die Vernichtung, denn hier habt Ihr sie vor Euch. Ihr habt sie herbeigeführt. Ihr habt mich vernichtet. Aber ich habe einen Jungen, der mich Papa nennt. Wenn Ihr zugegeben hättet, dass Ihr seine Mutter seid, und vernichtet worden wärt, in welcher Lage wärt Ihr heute? Und wäre sie besser oder schlimmer als das, was Ihr jetzt habt?«
    Das machte Eliza erröten, und zwar nicht nur im Gesicht, sondern am ganzen Körper. Es fühlte sich an, als strömte warmes Blut in Teile ihres Körpers, die seit den Pocken ausgehungert und bleich gewesen waren. Sie wäre ins Stocken geraten, hätte vielleicht sogar aufgegeben, wenn sie sich nicht seit Jahren für diesen Moment gestählt hätte. Denn
Lothars Worte enthielten viel Wahres. Aber sie hatte immer gewusst, dass er ein ernst zu nehmender Gegner war und sie trotzdem weiterkämpfen musste. »Ihr müsst nicht vernichtet sein«, sagte sie. »Ich kann mit einem Wort dafür sorgen, dass das Darlehen mit Zinsen zurückgezahlt wird.«
    »Bitte hört auf. Glaubt Ihr etwa, mein Kopf ist so leer wie das hier?« Er stieß mit dem Fuß seitlich gegen die Schatulle, und sie dröhnte wie eine Trommel. »Ich weiß, Ihr wärt nie nach Leipzig gekommen, wenn Ihr nicht alles so gedeichselt hättet, dass Ihr mich vor die Wahl zwischen Vernichtung und Errettung stellen könnt. Bestimmt ist das alles ausgesprochen raffiniert, eine Sache, wie ich sie in Eurem Alter faszinierend gefunden hätte; aber ich bin nicht in Eurem Alter.«
    »Ich bin mir natürlich durchaus bewusst, dass Ihr über das Geld hinaus zur Alchimie gelangt seid...«
    »Ach, tatsächlich? Und nun wollt Ihr mir irgendeinen Leckerbissen vor die Nase halten, der mit dem salomonischen Gold zu tun hat?«
    Dass man sie so durchschaut hatte, machte Eliza abgeneigt, es zu sagen, aber sie tat es trotzdem: »Ich weiß, wer es hat und wo; falls das Euer Wunsch ist...«
    »Mein Wunsch war, den Tod zu besiegen, der meine Brüder jung und ungerechterweise geholt hat«, sagte Lothar von Hacklheber. »Das ist ein weit verbreiteter Wunsch. Die meisten finden sich früher oder später mit dem Tod ab. Dass ich das nicht vermochte, war eine unbeabsichtigte Folge eines Pakts, den meine Familie mit Enoch Root geschlossen hatte. Damit er unter Menschen leben kann, muss er sich bestimmte Identitäten zu- und sie später, bevor seine Langlebigkeit auffällt, wieder ablegen. Mein Vater wusste über Enoch Bescheid – wusste ein wenig davon, was er war – und traf eine Vereinbarung mit ihm: Er würde Enoch als lange vermissten Verwandten namens Egon von Hacklheber ausgeben und einige Jahrzehnte lang unter diesem Namen bei uns wohnen lassen, wenn ›Egon‹ im Gegenzug seinen drei Söhnen als Lehrer dienen würde. Von den dreien war ich in gewissem Sinne der Aufgeweckteste, denn ich bekam mit, dass Enoch nicht so war wie wir. Und ich vermutete, dies habe damit zu tun, dass er irgendeine alchimistische Formel

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