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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Dutzend Menschen bemerkt wurde: einem in einer Einfahrt zusammengesackten Müßiggänger, einem protestantischen Geistlichen, einer Witwe, die eine Eingangsveranda ausfegte, einem Jungen, der einen Botengang machte, einem Juden in einer Pelzmütze und einem sehr großen bärtigen Mann mit einem leeren Ärmel und einem langen Stab in der Hand des anderen Arms.
    Letzteren erkannte sie wieder. Während der langen Kahnfahrt auf der Elbe hatte sie von Zeit zu Zeit flüchtig eine solche Gestalt erspäht, wie sie das Flussufer entlanggeschritten, zuweilen auch wie ein dreihundert Pfund schwerer Storch einhergewatet war und mit einem Fischspeer auf das Wasser eingestochen hatte. Hier fiel er kaum auf. Leipzig war der Kreuzungspunkt der von Venedig nach Lübeck und von Köln nach Kiew führenden Handelsrouten und diente als Auffangbecken für allerlei exotische Wanderer, Sonderlinge und Menschen, die sich nicht entscheiden konnten, wohin sie sich wenden sollten. Sie bemerkte ihn nur, weil sie ihn schon einmal gesehen hatte. Und unter anderen Umständen hätte sie den Rest der Woche darüber nachgegrübelt, was er hier machte; jetzt aber musste sie an zu vieles denken, und das verdrängte Dreschflegel-Arm aus ihrem Bewusstsein.
Sie betrat den Hof des Hauses vom Goldenen Merkur, als ob ihr das alles gehörte.
    Er glich einem Friedhof, nur dass er anstelle von Zenotaphen und Grabsteinen mit Stapeln und Haufen von Waren vollgestopft war: Tuchballen, Ölfässer, Kisten mit Porzellan. Sie konnte in keine Richtung weit sehen. Doch wenn sie den Hals verdrehte, konnte sie fünf Stockwerke hoch bis zu den großen Speichertüren schauen, die in den Giebel des Hauses eingelassen waren. Sie standen offen, die Flügel schwangen unbeachtet im Wind. Die dahinterliegenden Speicher des Hauses von Hacklheber waren leer. Ihr Inhalt war vollständig in den Hof hinabgelassen worden, als hätte Lothar beschlossen, alles zu liquidieren. Aber es waren keine Käufer da.
    Hinter Eliza schlug etwas auf dem Boden auf, und sie hörte, wie Caroline einen leisen Laut des Erstaunens von sich gab. Eliza drehte sich auf dem Absatz um und sah sich einem kleinen Wilden gegenüber – einem Pygmäen mit einem Tomahawk. Hinter den Warenstapeln entlangschleichend, war er ihr durch den Hof nachgepirscht. Er war vom Deckel einer Kiste gesprungen, die ihn überragte, um Eliza in einem schmalen Gang zu bedrohen. Doch nun bekam er Zweifel, denn er war zwischen Eliza und Caroline in die Falle geraten. Er wandte sich um und sah Letztere an. Ein Blick auf seinen Hinterkopf zeigte Eliza einen Wirbel blonden Haars, das gewaschen, eine störrische Tolle, die geschnitten, und einen kleinen, gerade dem Babyspeck entwachsenden Körper, der gebadet werden musste. Er trug einen Lendenschurz und Mokassins, und die Waffe, die er in der Hand hielt, bestand aus einer Terrakottascherbe, die irgendein Erwachsener geduldig mit Bindfaden an einem Stock befestigt hatte.
    Caroline hatte ihre Verblüffung überwunden und versuchte, sich zwischen Belustigung und Verärgerung zu entscheiden. »Buh!«, rief sie. Der kleine blonde Indianer wirbelte herum, wie um wegzulaufen, doch ihm fiel zu spät ein, dass Eliza ihm den Fluchtweg verstellte. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, und an seinen Augen erkannte sie ihn wieder. Er ließ den Tomahawk fallen, um besser über eine mit einem Netz umschnürte Palette mit Zuckerhüten klettern zu können, und war, ehe sie seinen Namen rufen konnte, in einem gedachten Massachusetts verschwunden.
    Caroline lachte, bis ihr Blick den von Eliza traf und sie deren Gesichtsausdruck sah; da wusste sie Bescheid.
    Um den Hof herum lief eine überdachte Galerie, auf der, als Eliza
das letzte Mal hier gewesen war, Männer des Hauses von Hacklheber an ihren bancas gesessen, in ihre Bücher geschrieben und Ströme fremdländischer Währung in ihre massiven Schatullen hinein- oder aus ihnen abgezählt hatten. Bis auf den oberen Rand der Bögen konnte Eliza nun wenig davon sehen. Doch wenige Augenblicke später hörte sie eine piepsende Stimme, die »Papa« auf Deutsch etwas mitteilte, und kurz darauf ein polterndes Lachen, gefolgt von einer geduldigen Erklärung.
    Als sie diese Stimme hörte, drehte sich Eliza, irgendeinem Instinkt folgend, um und schaute zu dem dreistöckigen Balkon auf, der in den Raum über dem Hof ragte und mit goldenen Merkursfiguren und anderen barocken Handelsemblemen geschmückt war. Dort oben hatte sie Lothar einmal gesehen, wie er sich

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