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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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konnten, kippte Eliza den Inhalt des Löffels auf ihren gefalteten Brief und stieß ihren Ring hinein. Das Siegel war, als sie ihren Ring wegzog, von
scharlachroter, mit schwarzen und grauen Streifen marmorierter Farbe – höchst einnehmend, wie sie fand, und vielleicht der Beginn eines neuen Trends bei Hofe.
    Lothar hatte einen Reiter kommen lassen, der bereit war, die Botschaft mindestens bis Jena zu befördern, wo sich vielleicht andere Boten fanden, die sie in den Westen bringen würden. Der Reiter wartete mit einem gesattelten und einem Reservepferd vor dem Tor. Eliza reichte ihm den Brief, wünschte ihm eine glückliche Reise, und er saß ohne weiteres Zeremoniell auf und trabte die Straße hinunter. Beim Markt angekommen, lenkte er sein Pferd in Richtung Westtor, verfiel in leichten Galopp und verschwand. In seinem Kielwasser gab es zahlreiche neugierige Zuschauer, die aus den Fenstern diverser Faktoreien und Handelshäuser schauten oder deren Türen öffneten. Aus einer Tür trat ein Mann, der sich eine große Perücke über seine stoppelige Kopfhaut stülpte. Er begann auf das Haus vom Goldenen Merkur zuzueilen, erpicht darauf, von Lothar eine Erklärung zu bekommen; und ehe er Lothars Tor erreicht hatte, hatten zwei weitere, um nicht ins Hintertreffen zu geraten, neben ihm Tritt gefasst. Eliza erwiderte ihre höflichen Begrüßungen, als sie zum Tor hereinkamen, mit einem Knicks. Aber sie folgte ihnen nicht ins Haus. Sie blieb draußen auf der Straße, um zuzusehen, wie sich die Neuigkeit verbreitete, und um dem langsam anschwellenden Murmeln zu lauschen, mit dem Leipzig zum Leben erwachte.

BUCH VIER
    Bonanza

Südliche Ränder des Mongolenreichs
    ENDE 1696
    Von manchen Nationen sagen wir, ihre Bevölkerung sei faul, wir sollten aber lieber sagen, dass sie arm ist; Armut ist die Quelle aller Arten von Trägheit.
    Daniel Defoe, A Plan of the English Commerce
     
     
    Ein See aus gelbem Staub reichte im Westen bis an den Fuß einer von Kobras verseuchten Hügelkette. Im Osten erstreckte er sich bis zum Horizont; wenn man lange genug in diese Richtung ging und aus den Küstensümpfen lebend herauskam, gelangte man zur Bucht von Bengalen. Das Land nördlich davon war ganz ähnlich, außer dass sich dort die reichsten Diamantenminen der Welt befanden; dort herrschte der Lieblingsneffe von König Aurangzeb, der Herr des gerechten Blutbads. Im Süden lagen Hügel und Berge, die im Moment, abgesehen von den verstreuten Zitadellen der Marathen, von niemandem wirklich beherrscht wurden. Jenseits davon, am äußersten Zipfel Hindustans, lag Malabar.
    Auf zwei Dreifüßen aus Bambus lagerten die Enden eines hölzernen Querbalkens, der eine kleine, in die riesige Staubfläche gebohrte Öffnung überspannte. Das Holz war von einem Seil blank poliert worden, das Tag für Tag über den Balken glitt. An einem Ende des Seils baumelte ein Eimer in den Brunnenschacht hinein. Am anderen Ende befand sich ein Joch, das man einem Ochsen über seinen knorpeligen Buckel geworfen hatte. Hinter dem Tier stand ein hagerer, mit einem Bambusstock bewaffneter Mann. Der Ochse schleppte sich von dem Brunnen weg. Hier und da blieb er impertinenterweise stehen und fuhr eine oder zwei Minuten mit dem Maul durch den Staub, als gäbe es da irgendwas Essbares. Dann fing der Mann an, auf ihn einzureden. Dabei war sein Ton zuerst ruhig, dann weinerlich, flehend, ärgerlich
und schließlich wütend. Zuletzt nahm er zu seinem Stock Zuflucht, und der Ochse stapfte noch einige Schritte vorwärts.
    Von Zeit zu Zeit war der Ochse am Ende des Seils angelangt, was bedeutete, dass der Eimer aus dem Loch aufgetaucht war. Dann rief der Mann mit dem Bambusstock zwei jüngeren Männern etwas zu, die im Schatten des niedrigen Walls aus Mist dösten, der die Brunnenöffnung umgab und ihr Ähnlichkeit mit einer rauen Riesenbrustwarze verlieh. Die Männer rafften sich auf, erklommen den Wall, packten den Eimer, schwenkten ihn zu einer Seite herüber und kippten ein paar Gallonen Wasser auf den Boden. Das Wasser machte sich auf die unsinnige Suche nach dem nächstgelegenen Meer. Der Ochse drehte sich um und kam zurück.
    Diese Menschen waren alle Menschen (wie sie sich in ihrer eigenen Sprache nannten). Die Eimerleerer gehörten zu einer anderen Unterkaste als der Ochsentreiber, aber beide konnten ihren Stammbaum über hundert Generationen zum selben Urmenschen zurückverfolgen. Und selbst wenn Schwert des Göttlichen Feuers es noch nicht gewusst hätte, hätte er

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