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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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grassiert überall. Loyalität gegenüber der eigenen Klasse – das heißt, gegenüber der eigenen Familie – ist viel wichtiger als Loyalität gegenüber einem bestimmten Land.«
    »Ich glaube, auf der anderen Seite der Meeresstraße dort gibt es viele, die den gegenteiligen Standpunkt vertreten würden.«
    »Aber Ihr befindet Euch auf dieser Seite der Straße, Mademoiselle, und das noch für lange Zeit.«
    »In welchen Verhältnissen?«
    »Das bleibt Euch überlassen. Wenn Ihr mit Euren Gewöhnlichkeiten fortfahren wollt, werdet Ihr auch ein gewöhnliches Schicksal erleiden. Ich kann Euch nicht auf die Galeere schicken, sosehr mir das auch gefiele, aber ich kann dafür sorgen, dass Ihr in irgendeinem Arbeitshaus ein ebenso erbärmliches Leben fristet. Zehn oder zwanzig Jahre lang
Fische auszunehmen, glaube ich, würde die Achtung vor allem Vornehmen bei Euch wiedererwecken. Falls Euer jüngstes Verhalten allerdings nur eine Verirrung war, vielleicht hervorgerufen durch die Strapazen des Wochenbetts, kann ich Euch in ganz ähnlicher Stellung wie zuvor wieder in Versailles installieren. Als Ihr aus St. Cloud verschwunden seid, nahm alle Welt an, Ihr wärt schwanger geworden und hättet Euch irgendwohin begeben, um heimlich Euer Kind zur Welt zu bringen und es dann wegzugeben; nun ist ein Jahr verstrichen, alles hat sich so abgespielt, und man erwartet Euch zurück.«
    »Ich muss Euch verbessern, Monsieur. Es hat sich nicht alles so abgespielt. Ich habe das Kind nicht weggegeben.«
    »Ihr habt ein verwaistes Ketzerkind aus der Pfalz adoptiert«, erklärte d’Avaux mit grimmiger Geduld, »um es im wahren Glauben aufwachsen zu sehen.«
    »Es aufwachsen zu sehen ? Man gedenkt also, mich zur bloßen Zuschauerin zu machen?«
    »Da Ihr nicht seine Mutter seid«, erinnerte d’Avaux sie, »fällt es schwer, andere Möglichkeiten ins Auge zu fassen. Die Welt ist voller Waisen, Mademoiselle, und die Kirche in ihrer Barmherzigkeit hat viele Waisenhäuser für sie errichtet – manche in entlegenen Regionen der Alpen, andere nur ein paar Gehminuten von Versailles entfernt.«
    So teilte d’Avaux ihr mit, was auf dem Spiel stand. Sie könnte im Arbeitshaus enden oder als Gräfin in Versailles. Und ihr Kind könnte tausend Meilen oder tausend Fuß von ihr entfernt großgezogen werden.
    Jedenfalls wollte d’Avaux sie das glauben machen. Aber obwohl Eliza selbst nicht spielte, wusste sie über das Spielen Bescheid. Sie wusste, was es hieß zu bluffen, und dass ein Bluff manchmal nichts anderes war als ein Zeichen für ein schwaches Blatt.
     
    Als belesener und weitgereister Herr hatte Bonaventure Rossignol gelernt, dass es auf der Welt Länder – und selbst in seinem Lande religiöse Gemeinschaften und Gesellschaftsklassen – gab, in denen Männer nicht ständig mit langen, scharfen Hieb- und Stichwaffen umherliefen, die jederzeit gezückt und anderen Männern ins Fleisch getrieben werden konnten. Das war etwas, was er wusste und theoretisch verstand, aber dennoch nicht richtig begriff. Man brauchte beispielsweise nur die gegenwärtige Lage zu betrachten: zwei Männer, einander fremd, im selben Haus wie Eliza, wobei keiner wusste, wo
der andere sich befand oder welche Absichten er haben mochte. Es war ein ungemein instabiler Zustand. Nun würde mancher vielleicht einwenden, es hieße dieses Gemenge noch unbeständiger machen, wenn man ihm scharfe Waffen hinzufügte, was von daher kein guter Gedanke wäre; Rossignol jedoch empfand es als ganz und gar passend und als geeignete Methode, einen Konflikt ans Licht zu bringen, den man in anderen Ländern oder Klassen im Dunkeln schwären ließe. Rossignol schlich – dies ließ sich nicht leugnen – schon seit geraumer Weile durchs Haus, in dem Bemühen, nicht von d’Avaux entdeckt zu werden. Ein gewundener, Kehrtwendungen beschreibender Weg hatte ihn in einen düsteren, von dem Renovierungsprojekt übergangenen Flur geführt, vertäfelt mit Holzpaneelen, die noch nicht so gestrichen waren, dass sie wie Marmor aussahen, und vollgestopft mit den Porträts und Andenken der d’Ozoirs – einige davon an den Wänden aufgehängt, die meisten an irgendetwas gelehnt, was sie aufrecht hielt. Denn wenn es ein Zeichen gehobenen Geschmacks und der Zugehörigkeit zu einer hohen Klasse war, die Wände seiner Wohnung mit Gemälden zu schmücken, wie unendlich viel kultivierter war es dann, große Stapel heimatloser Kunstwerke an Wände zu lehnen und hinter Stühlen aufzuschichten! Wie auch

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