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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Masten hinweg zu dem dahintreibenden Speer. Als die Masten sich flussabwärts bewegten, wurde der Speer in
die entgegengesetzte Richtung über sie gezogen, und die Widerhaken des Speerkopfes verfingen sich unweigerlich in einigen der Seile, die das Floß zusammenhielten. Über das, was sich im Schlund des Krokodils abspielte, als das Seil sich straffte und versuchte, das Huhn herauszuziehen, konnte Jack nur Vermutungen anstellen – und das, was im Kopf des Huhns (das vielleicht in irgendeiner Weise noch lebte) vor sich ging, war eine Sache für Metaphysiker. Das sichtbare Ergebnis war, dass die Masten sich nicht mehr bewegten und das Krokodil ausgesprochen böse wurde. Jack nahm an, dass ein sehr großes und altes Krokodil seine Arbeit, das Verschlingen und Verdauen von allem, was seinen Weg kreuzte, mit einem gewissen Stolz erledigte und dass der Versuch, eine Mahlzeit rückgängig zu machen, indem man sie ihm wieder aus dem Maul zog, von einem solchen Reptil als schwerwiegender Affront aufgefasst werden musste. Auf jeden Fall begann es, heftig um sich zu schlagen. Und das bescherte Jack ein bisschen Glück, mit dem er im Grunde nicht gerechnet hatte: Sämtliche anderen Krokodile schienen diese Aufregung zu hören oder zu spüren und bemühten sich, auf dem schnellsten Weg dorthin zu kommen – was beunruhigend schnell war.
    Jack zauderte jedenfalls nicht lange, diese Gelegenheit, vermutlich die einzige, die er bekommen würde, zu nutzen. Er watete hinein, hielt aber auf halbem Weg zu den Masten inne, denn er spürte, dass er keinen Boden mehr unter den Füßen hatte und die Strömung versuchte, ihm die Beine wegzuziehen. Mit seinen Stiefeln und Waffen würde er unmöglich schwimmen können. Er stieß einen Stiefel weg und wollte ihn schon aufgeben, als irgendetwas hinter ihm ihn dazu bewog, sich umzudrehen. Nasenlöcher nahmen Kurs auf ihn. Er schleuderte den Stiefel in ihre Richtung, woraufhin der genauso schnell verschwand wie das Huhn. Bald darauf folgte ihm der zweite Stiefel. Jetzt zog Jack den Gürtel aus, an dem seine Schwertscheide mitsamt Schwert hing. Den Gürtel warf er dem Krokodil zu, das einen Herzschlag lang innehielt, bevor es sich ihn einverleibte. Das Schwert schleuderte er auf das Mastenfloß zu, und es war so anständig, dort stecken zu bleiben. Die Scheide hielt er so, als wollte er sie dem Krokodil hinwerfen. Während es ihn aus hervorquellenden Augen mit schlitzartigen Pupillen beobachtete, riss es das Maul auf, um sie zu packen; doch Jack hielt an diesem Leckerbissen fest, drehte ihn in die Senkrechte und schob ihn dem Krokodil zwischen die Kiefer.
    Das erwies sich jedoch lediglich als kleine Belästigung für das Tier
und nicht als die Glanznummer, die Jack sich erhofft hatte; aber wie er bereits in verschiedenen Zusammenhängen bewiesen hatte, genügte es oft schon, lästig zu sein. Dieses Krokodil brauchte ein paar Minuten, um die Scheide loszuwerden, und in dieser Zeit entledigte Jack sich seiner Kleider. Während ein anderes Krokodil diese verschlang, schwamm Jack nackt zu dem Floß. Während die beiden Krokodile um den Vortritt kämpften, kletterte Jack auf die Masten und zog sein Schwert aus dem Holz. Ein kleineres Krokodil schwamm mit haarsträubender Geschwindigkeit auf ihn zu, so als hinge es im Schlepptau eines Flottenschiffs, und kam allein mit seinem Schwung halb auf den Fockmast hinauf. Jack schlug ihm fast den Kopf ab, und es fiel ins Wasser und wurde zum Fraß für andere Krokodile. Ein weiterer Hieb des Janitscharenschwerts zerschnitt das Seil, an dem das Huhn hing, und machte die Masten wieder los. Das Floß nahm langsam Fahrt auf, glitt mit Leichtigkeit über die unter Wasser liegende Sandbank hinweg und in den Hafen hinein, wobei es sich gemächlich in einem großen, unsichtbaren Strudel drehte.
    Dort wartete das Boot der Königin, und nach wenigen Wurfversuchen gelang es Jack, das Seil zu seinen Kameraden hinüberzuwerfen, die sich gleich daranmachten, ihn und die Masten wie einen Fisch einzuholen.
    Jack spürte, dass er einen bösen Sonnenbrand hatte; dennoch empfand er die Äquatorsonne verglichen mit Königin Kottakkals funkelndem Blick als wohltuenden Balsam.
    »Ich erkenne die Weisheit Eurer Tradition, oh Königin«, sagte Jack, während sein Mastenfloß längsseits neben das königliche Boot bugsiert wurde, »denn nicht ein Mann von Tausend würde die Prüfung überleben, der Ihr mich hier unterzogen habt. Und soweit ich es beurteilen kann, ist einer von Tausend

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