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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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verwirrt mich, denn unsere nächste Königin heißt Anne und wohnt in England.«
    »Sie hat Syphilis wie ihre Schwester und ihr Vater«, murmelte Roger, als wäre Prinzessin Anne nur die allerflüchtigste Ablenkung, »wird also wahrscheinlich keine lebensfähigen Kinder haben – Sophie dagegen war zu ihrer Zeit eine nicht zu bremsende Kinderproduzentin. Ihr könnt mir glauben, wenn wir diese syphilitischen, papistischen Stuarts nur bis zum Ende ertragen können, sehen wir Hannoveraner auf dem Thron – und Hannoveraner sind die geborenen Whigs.«
    »Woraus folgt das?«
    »Hannoveraner sind die geborenen Whigs«, wiederholte Roger. »Sagt Euch das hundert Mal am Tag vor, Daniel, bis Ihr es glaubt; und dann sagt es zu Sophie von Hannover, als ob Ihr es ernst meintet.«
    »Seht nicht hin, Roger, aber mir ist, als beobachteten uns vom Tower aus ein paar geborene Torys.« Daniel neigte den Kopf zu einem Seitenfenster der Kajüte hin, das einen Blick über den Wharf und die Befestigungen darüber und dahinter bot.
    »Wirklich?«
    »O ja, allerdings.«
    »Von der Kurtine oder...«
    »Ein Stück weiter hinten, würde ich sagen. Denkt daran, dass der Tower dieser Tage ziemlich von Torys bevölkert ist.«
    »Da habt Ihr vermutlich recht«, sagte Roger. »Gut gemacht, Daniel. Vielleicht habt Ihr ja doch eine Zukunft als Intrigen spinnender Politiker.«
    »Ihr vergesst, dass ich mir damit einmal meinen Lebensunterhalt verdient habe. Entschuldigt mich, Roger, aber mich kommt ein menschliches Rühren an, und ich muss zur Pütz.«
    »Wirklich oder...«
    »Nein, denn ich leide seit drei Tagen unter Verstopfung; es ist ein Ablenkungsmanöver. Gibt es hier irgendwo ein Fernrohr?«
    »Ja, sogar ein sehr schönes, in der Schublade dort – nein, weiter links – jetzt tiefer – noch tiefer. Da habt Ihr es.«

    »Um die Illusion zu vervollkommnen, brauche ich noch etwas als Scheißhaufen.«
    »Talgpudding«, sagte Roger sofort und beäugte einen braunen Klumpen auf einer Servierplatte.
    »Ich dachte an Bratwürstchen«, sagte Daniel, »aber in der englischen Küche gibt es so vieles, das ungefähr die richtige Größe, Form, Farbe und Zusammensetzung hat, dass einen die Wahlmöglichkeiten leicht überwältigen.«
    »Ihr werdet feststellen, dass es in Frankreich eine größere Mannigfaltigkeit an Speisen gibt.«
    »So hört man immer wieder.« Und mit einem Fernrohr in einer Hüfttasche und einem Brocken Talgpudding in der Hand verfügte sich Daniel zur Pütz. Auf den meisten Schiffen hätte das bedeutet, bis ganz ans andere Ende zu gehen und seinen Hintern London zu zeigen; aber da es sich hier um ein Schiff von herzoglichem Luxus handelte, gab es, an diese Prachtkabine anschließend, ein winziges, von außen am eigentlichen Rumpf angebrachtes Kabuff mit einer Bank, einem Loch und drei Faden freier Luft bis zum Wasser. Über der Bank befand sich ein barockes Fenster, um Licht ein- und schlechte Gerüche hinauszulassen. Daniel machte es sich bequem, öffnete das Fenster einen Spaltbreit, stützte das Fernrohr auf die Fensterbank und schob es unter dem Saum des Vorhangs durch.
    Salt Tower, der die Südostecke der Befestigungen bildete, die Henry III. vor etwas über vierhundert Jahren um den heute als Inner Ward bekannten Bereich hatte anlegen lassen, sah aus, als wäre er aus Scherben und Trümmerstücken anderer Türme errichtet worden, die eingestürzt oder in die Luft gesprengt worden waren. Er war an manchen Stellen eckig, an anderen eher rundlich. Da und dort ragten Schornsteine daraus hervor. An anderen Stellen gab es Zinnen oder Brüstungen. Diverse Fenster waren darin eingelassen worden, wann immer den Steinmetzen danach gewesen war. So jedenfalls sah es nach einem halben Jahrtausend von Verbesserungen aus. Wahrscheinlich lag der Platzierung jedes Steins irgendeine unfehlbare Logik zugrunde. Mehrere Könige mit Namen Edward hatten an der dem Inner Ward zugewandten Seite eine etwas niedrigere Kurtine anbringen lassen, die über ihr eigenes Museum von Türmen und Bastionen verfügte. Über die Geschütze und Zinnen der Letzteren zielte Daniel nun mit seinem Fernrohr und richtete es auf die über und hinter ihnen liegende flache Spitze des Salt Tower. Dieser war einer von mehreren
Türmen des alten Inner Ward, die als Zellen für Häftlinge von Adel verwendet wurden. Manchmal kam es Daniel so vor, als wäre die Hälfte der Menschen, die er kannte, irgendwann in ihrem Leben in dem einen oder anderen dieser Türme eingesperrt gewesen

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