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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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– auch er selbst. Was also einem gewöhnlichen Newgate-Häftling wie ein unbegreiflicher Sammelplatz für Bauschutt erschienen wäre, war Daniel ebenso vertraut wie die Küche dem Koch. Er machte rasch zwei Gestalten in Perücken aus und stellte das Fernrohr scharf. Sie standen genau an der Stelle, wo Daniel vor fast dreißig Jahren mit dem inhaftierten Oldenburg gestanden und zugesehen hatte, wie im Schutze der Nacht Schiffsladungen von französischem Gold den Fluss heraufgekommen waren, mit denen die englische Außenpolitik hatte korrumpiert werden sollen. Nun war alles genau umgekehrt: Diese beiden Männer spähten auf die Météore hinab, die als Teil einer ganz anders gearteten Transaktion demnächst nach Frankreich fahren würde. Einer der Männer trug eine flammend rote Perücke; das musste Charles White sein, dessen natürliches Haar die gleiche Farbe hatte. Sein Begleiter trug eine dunkle Perücke, einen Dreispitz und einen Schnurrbart und war schwieriger zu erkennen. Beide waren vermutlich verhaftet worden, nachdem das Mordkomplott verraten, aufgedeckt worden und fehlgeschlagen war; aber das hatte den Kreis der Kandidaten lediglich auf eine Schar von mehreren tausend Torys eingeschränkt, die König Wilhelm so sehr den Tod wünschten, dass sie ihn selbst umbringen würden. Für Daniel auffällig war die Neugier des Mannes mit der dunklen Perücke im Hinblick auf alles, worauf sein Blick fiel. Auf etwas zu starren und mit Fingern zu zeigen galt als ungezogen, als etwas, was man als Adeliger nicht tat, doch diese beiden taten nichts anderes. Charles Whites Blick galt hauptsächlich der Météore , und Daniel gab ihm etwas zum Beobachten, indem er drei Stücke Talgpudding durch das Loch fallen ließ. Doch Whites Begleiter hatte nur Augen für London und hörte nicht auf zu starren, mit dem Finger zu zeigen und White am Ärmel zu zupfen, um ihn nach diesem oder jenem zu fragen. Besonders schien er sich für die neuen Piers und Lagerhäuser zu interessieren, die in den letzten Jahrzehnten entlang den Flussufern entstanden waren und sich Richtung Rotherhithe erstreckten. Charles White war gezwungen, sich einigermaßen ausführlich zu verbreiten und auf ein paar Besonderheiten hinzuweisen. Doch sobald der Dunkelhaarige seine Neugier befriedigt und sich an diese Neuheiten gewöhnt hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit
den älteren Teilen Londons zu und begann, mehr zu reden und weniger zuzuhören. Charles White begann seinerseits, ihm Fragen zu stellen. Er begann mit plastischen Gebärden und (vermutete Daniel) gekonnten Imitationen von Dirnen, Anekdoten zu erzählen, stemmte schlaffe Handgelenke auf seine Hüftknochen oder stützte das Kinn auf gekrümmte Finger, um geistreiche Pointen zu liefern, die brüllendes Gelächter beider Männer hervorriefen – Gelächter mit Rückstoß, denn beide warfen dabei den Oberkörper zurück und bleckten schimmernde Zähne – wie zwei Vipern, die sich zurückbäumen, um sich gegenseitig zu beißen. Selbst aus dieser Entfernung war erkennbar, dass die Zähne des Dunkelhaarigen aus dem besten afrikanischen Elefanten-Elfenbein gefertigt waren. Daniel, ein freier Mann, war von diesen Häftlingen eingeschüchtert und starrte sie fasziniert an, wie ein Jäger hinter einem Ansitzschirm.

Dünkirchen
    MÄRZ 1696
    Es war alles andere als ein warmer Tag, zumal da der Wind vom Kanal kam; doch der Himmel war völlig wolkenlos, die Wellen des Meeres hatten nichts zu spiegeln als das satte azurblaue Strahlen des Himmels, und infolgedessen war es einer der seltenen Tage, an denen der Ozean wirklich blau war. Das und das goldene Funkeln von Wellen-Facetten, in denen sich direktes Sonnenlicht fing, schien wie ein günstiges Omen für Frankreich.
    Die Météore war fast nicht imstande gewesen, in den Hafen von Dünkirchen einzulaufen. Das lag nicht etwa daran, dass man ihr einen feindseligen Empfang bereitet hätte. In der Mitte des Kanals hatte die Mannschaft das Georgskreuz gestrichen und das Lilienbanner am Besanmast hochgezogen, und die Besatzungen der Küstenbatterien hatten dies akzeptiert oder wenigstens so lange davon Abstand genommen, sie zu pulverisieren, bis Daniel sich hatte erklären und Botschaften ans Ufer hatte schicken können. Die Schwierigkeit hatte eher darin gelegen, im Hafen Platz für ein weiteres Schiff zu finden. Erstens hatte sich dort in Erwartung der Ermordung von König Wilhelm
eine bescheidene Invasionsflotte gesammelt. Sie war nichts im Vergleich mit dem Heer,

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